Neue Schulserie

Quereinsteiger als Lehrer: Uns fehlt pädagogische Bildung

| Lesedauer: 7 Minuten
Franziska Hoppen
Till Zoppke entwickelte Navigationssysteme und autonome Fahrzeuge für die Industrie. Heute unterrichtet er am Gymnasium Tiergarten

Till Zoppke entwickelte Navigationssysteme und autonome Fahrzeuge für die Industrie. Heute unterrichtet er am Gymnasium Tiergarten

Foto: Annika Bauer

Till Zoppke war Informatiker. Seit einem Jahr unterrichtet er am Gymnasium Tiergarten. Der erste Teil unserer neuen Schulserie.

Manchmal, wenn Till Zoppke von der Schule nach Hause kommt, hilft nur noch ein Kurzschlaf. Zoppke ist Quereinsteiger. Seit einem Jahr unterrichtet der ehemalige Informatiker am Gymnasium Tiergarten: 13 Stunden Unterricht pro Woche, zwei Stunden AG, drei Lehramtsseminare für zwei Fächer und ein Grundseminar, je drei Stunden, plus jeweils Vorbereitung. „Das ist eine 50-Stunden-Woche“, sagt der 45-Jährige. „Ich sitze jeden Tag bis Mitternacht am Schreibtisch.“

Gleich von Anfang an wurde er ins kalte Wasser geworfen: Er musste eigenverantwortlich unterrichten, lernen, wie man Teenager freitagnachmittags bei Laune hält. Auch wenn ihn seine Arbeit begeistert, sie kann müde machen. „Ich habe mir die zeitliche Belastung nicht so hoch vorgestellt“, sagt er.

Seit Jahren setzt Berlin in Mangelfächern auf Quereinsteiger, weil nicht genügend Fachkräfte unter den Bewerbern sind. Im neuen Schuljahr fällt der Anteil der neu eingestellten Lehrer, die aus anderen Berufen kommen, so hoch aus wie noch nie: 41 Prozent der Stellen wurde mit Quereinsteigern besetzt.

Insgesamt sind in diesem Schuljahr nach Angaben der Bildungsverwaltung 4,3 Prozent der 33.000 Lehrkräfte Quereinsteiger. Das klingt zunächst überschaubar. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hingegen zählt auch die Quereinsteiger, die bereits ihre berufsbegleitende Ausbildung abgeschlossen haben. „Wenn man alle Quereinsteiger zählt, die seit 2006 eingestellt worden sind, beträgt der Anteil an der Gesamtlehrerzahl inzwischen 20 Prozent“, sagt Dieter Haase, Mitglied des Vorstandes der GEW Berlin. „In der Grundschule sind ausgebildete Grundschullehrkräfte bei den Einstellungen sogar in der Minderheit.“ Auch nach ihrer Ausbildung hätten sie einigen Abstand zu ihren Kollegen aufzuholen, erklärt Haase.

Vor allem an Grundschulen und in den Fächern Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften gibt es nicht genügend Fachkräfte. Genau in diesen Fächern haben Quereinsteiger ein Hochschulstudium absolviert. „Für die Schüler kann das nur bereichernd sein“, findet Cynthia Segner, Schulleiterin am Gymnasium Tiergarten. Auch für Quereinsteiger ist das Arrangement praktisch: Sie erhalten einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Während der Ausbildung erhalten sie 3000 Euro monatlich und danach ein attraktives Gehalt von 5100 Euro. Um den Beruf attraktiver zu machen, hat der Senat das Gehalt für neu ausgebildete Grundschullehrer in diesem Jahr kräftig angehoben. An den Grundschulen erhalten die Quereinsteiger nach ihrer Ausbildung damit mehr als die altgedienten erfahrenen Kollegen.

Jeder zehnte Seiteneinsteiger scheitert

Aber: Im Gegensatz zu den Lehramts-Referendaren, die von der Universität kommen, arbeiten Quereinsteiger vom ersten Tag an Vollzeit. Sie unterrichten 19 Stunden pro Woche, besuchen daneben wie die Referendare 18 Monate lang Seminare im Umfang von sieben zusätzlichen Stunden pro Woche und müssen sich auf beides vorbereiten. Nur wenige reduzieren die Unterrichtsverpflichtung wie Zoppke auf 13 Stunden, weil sie sich die finanzielle Einbuße nicht leisten können.

„Das geht über die Grenze der Belastbarkeit hinaus“, sagt Dieter Haase. Das zeige sich auch daran, dass sich der Anteil der Seiteneinsteiger, die das zweite Staatsexamen nach den 18 Monaten nicht bestehen, im vergangenen Jahr auf zehn Prozent verdoppelt hat. Referendare, die eine Lehramtsausbildung an der Universität absolviert haben, hätten da einen entscheidenden Vorsprung: Etwa ein Drittel des fünfjährigen Studiums besteht bereits aus Fachdidaktik, Psychologie und Pädagogik.

Till Zoppke hatte vor seinem Arbeitsantritt einen Tag am Gymnasium Tiergarten hospitiert, um sich einen Eindruck von der Schule zu machen. In einem Workshop wurde er auch vage auf den ersten Moment vor seiner neuen Klasse vorbereitet. Sein erstes Halbjahr beschreibt er trotzdem als „ein einziges Durchwurschteln“. „Es gab tausend kleine Dinge, die ich lernen musste“, sagt er. „Wie stellt man sich einer Klasse am besten vor, wie funktioniert die Pausenaufsicht, wo sind die Schlüssel, mit denen ich die Fenster aufschließen kann?“ Im Lehrerkollegium griffen die Kollegen ihm unter die Arme, wo sie konnten. „Das war die anstrengendste Zeit meiner beruflichen Karriere“, sagt Zoppke. Auch für Kollegen kann das anstrengend sein. Die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, Hildegard Bentele, kritisiert: „Mittlerweile übernehmen Lehramtsanfänger die berufsbegleitende Ausbildung von Quereinsteigern, gerade im Lehrerberuf ist aber Berufserfahrung und Menschenkenntnis besonders wichtig.“ Sie fordert, genauer darauf zu achten, dass an einzelnen Schulen der Anteil der Quereinsteiger nicht zu hoch wird. Denn oft werden die Seiteneinsteiger gerade an Schulen in Brennpunkten eingesetzt, weil es dort schwieriger ist, ausgebildete Fachkräfte zu gewinnen. Außerdem müsse die Unterrichtsverpflichtung deutlich abgesenkt werden.

Zoppke stört vor allem, dass in den gemeinsamen Seminaren kein Unterschied gemacht wird zwischen Referendaren und Quereinsteigern. „Wir haben weniger Vorwissen und durch die vielen Unterrichtsstunden weniger Zeit zur Prüfungsvorbereitung”, erklärt er. „Uns fehlt die pädagogische Bildung, die Lehrtheorie.“ Zoppke sagt, er habe Glück mit seinen Schülern gehabt und auch, dass er sich bewusst ein Gymnasium ausgesucht hat. Wenn er von „seinen Schülern“ spricht, dann strahlt er. Die Schüler forderten viel ein und würden ihm ein ehrliches Feedback geben. „Wenn ich mich gut vorbereite, bekomme ich auch viel zurück.“

Vier Jahre hatte Zoppke in der Industrie gearbeitet, sechs Jahre an der Universität unterrichtet, Navigationssysteme und autonome Fahrzeuge entwickelt. An der Schule war er überrascht, wie gut er seine 106 Schüler kennenlernt, was für eine starke Gemeinschaft sich entwickeln kann. Wie er sich in den Kopf eines Zehntklässlers versetzen soll, um ihm Inhalte wie Trigonometrie zu veranschaulichen, das fragt sich Zoppke trotzdem noch oft. Der Wechsel zur Schule erlaubt Zoppke nach vielen Jahren endlich Planungssicherheit. „Es ist ein großer Vorteil, zu wissen, dass ich jetzt hierbleiben kann.“

Die Bildungsexpertin der CDU, Hildegard Bentele befürchtet jedoch, dass das Versprechen des vollen Gehalts und unbefristeter Einstellung die Lehrerausbildung auf Dauer unattraktiv macht. „Quereinsteiger sollten zunächst einen Fünfjahresvertrag erhalten, damit, falls sie nicht erfolgreich unterrichten, die Stelle wieder für reguläre Lehrer frei wird“, sagt sie. Zudem sei es wichtig, auch nach der Ausbildung individuelle Fortbildungsverpflichtungen festzulegen.

Auch Zoppke wünscht sich ein paar Veränderungen: „Ich würde schon gerne ein paar Stunden weniger unterrichten. Es bleibt wenig Zeit für etwas anderes außer Schule.“ Und eine Einführung in Pädagogik würde helfen, vor Beginn der berufsbegleitenden Ausbildung. Dann würde die Unterrichtsvorbereitung besser klappen. Und der Kurzschlaf nach dem Schultag wäre überflüssig.

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