Zwei Lebenszeichen pro Tag, so war es vereinbart. Nach zwei Workshop-Tagen in Istanbul: Funkstille. Einen Tag, eine Nacht, und noch einen halben Tag musste Magdalena Freudenschuss warten, bis sie die Stimme ihres Lebensgefährten hörte – für drei Minuten. Länger durfte das Telefonat nicht dauern. Peter Steudtner aus Prenzlauer Berg, Fotograf, Menschenrechtler und Vater von zwei Kindern, rief aus dem türkischen Polizeigewahrsam an.
Er war in die Türkei gereist, um in einem Tagungshotel auf der Marmarameerinsel Büyükada türkische Menschenrechtsaktivisten zu unterrichten. Steudtners Spezialgebiete: Bewältigung von Stress- und Traumata in der Menschenrechtsarbeit. Und: der Schutz von sensiblen Daten und Quellen. Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International (AI) in Deutschland, spricht von einem Routine-Workshop. „Keine besondere Risikostufe“, sagt Beeko.
„Menschenrechtsstandards werden ausgehölt“
Jetzt sitzen sechs Workshop-Teilnehmer, darunter Steudtner, sein schwedischer Kollege Ali Gharavi, und zwei führende Vertreter von AI seit über einer Woche in der Türkei in Untersuchungshaft. Der Vorwurf: Unterstützung einer bewaffneten terroristischen Vereinigung. Beeko spricht von einem einmaligen Vorgang, die Türkei höhle internationale Menschenrechtsstandards aus. „Alle Staats- und Regierungschefs sind aufgefordert, klare Signale zu senden“, sagt Beeko.
An Signalen von deutscher Seite mangelt es nicht. Das Auswärtige Amt hat die Reisehinweise für die Türkei verschärft, die wirtschaftlichen Beziehungen stehen auf dem Prüfstand. Am Dienstagabend traf sich der türkische Außenminister mit der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Keine Annäherung beim Thema Menschenrechte. Am gleichen Abend trat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Ankara vor die Parlamentsfraktion seiner Partei AKP und warf Deutschland in offensichtlicher Anspielung auf Steudtner Spionage vor.
Am Mittwoch hieß es aus dem Auswärtigen Amt, es sei „schwer bis gar nicht erträglich“, dass Steudtner ohne genaue Angabe der Vorwürfe in Untersuchungshaft sitze. Ein Ministeriumssprecher beklagte „Vorverurteilungen“ von türkischer Seite, die „in sich total widersprüchlich“ seien. Mehr Eskalation ist in Diplomatendeutsch kaum denkbar. Eine Freilassung der zehn deutschen Staatsbürger, die seit dem Putschversuch in der Türkei inhaftiert wurden, ist in den letzten Tagen nicht gerade wahrscheinlicher geworden.
Ungewissheit macht am meisten zu schaffen
Es ist diese Ungewissheit, die Magdalena Freudenschuss am meisten zu schaffen macht. „Das bedrückt mich, macht mich traurig und auch müde“, sagt die 37-Jährige. Dennoch: Drei Wochen nach dem letzten Telefonat mit ihrem Lebensgefährten wirkt sie gefasst, wird im halbstündigen Pressegespräch nie emotional oder verbittert. Woher diese Stärke? Seitdem Vertreter des Generalkonsulats in Istanbul Steudtner in der Untersuchungshaft besuchen durften weiß sie: Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Und: Er ist zusammen mit seinem Freund Ali Gharavi in einer Zelle. Freudenschuss sagt: „Peter vermittelt in seinen Trainings, wie man gut auf sich aufpasst, wie man mit Stress umgeht. Davon habe ich auch gelernt.“ Und: „Ich habe großes Vertrauen, dass Peter auf dieses Wissen selbst in der Haft zurückgreifen kann, und um sich halbwegs gut sorgen kann.“
Und dann sind da noch die vielen Unterstützer. Mehr als 530.000 verlangen in einer weltweiten Petition die Freilassung der inhaftierten Menschenrechtler in der Türkei. In der Gethsemanekirche, in der Steudtner vor allem in der Jugendarbeit aktiv war, treffen sich jeden Abend Gläubige, singen und beten für Steudtner. Pfarrer Christian Zeiske verweist auf die Symbolik seiner Kirche, die in den 80er-Jahren zur Anlaufstelle für die DDR-Opposition und die Friedensbewegung wurde. „Die Gethsemanekirche ist die Heimat von Peter Steudtner und ein Symbol dafür, dass friedlicher Protest und Dialog Veränderungen bewirken“, sagte Pfarrer Zeiske vor der ersten Führbittenandacht für Steudtner. Freudenschuss sagt: „Dass so viele Menschen in kleinen und großen Gesten ihre Wertschätzung gegenüber Peter und seiner Arbeit zeigen, das ist etwas Wundervolles.“
Klares Ziel: Stärke zeigen
Und so sitzt sie am Mittwoch vor rund zehn Journalisten und Kameraleuten mit einem klaren Ziel: Stärke zeigen. Antworten, die ihr nahegehen könnten, vermeidet sie – zum letzten Telefonat mit Steudtner, zu ihren Hoffnungen, Wünschen, Forderungen. An der Wand hängt das Foto ihres lächelnden Partners, der 1700 Kilometer ohne greifbare Begründung und Hoffnung auf einen baldigen rechtsstaatlichen Prozess in Haft sitzt. Der Chef von Amnesty Internatonal Deutschland sorgt sich um die Menschenrechtslage in der Welt. Journalisten suchen nach Antworten auf die Frage: Kann jemand etwas für Steudtner tun? Und seine Lebenspartnerin sagt: „Ich weiß, dass wir das durchstehen werden.“
Andacht und Gebete für Menschenrechtler Steudtner
Türkische Medien attackieren Merkel: „Schlimmer als Hitler“