Adenauer-Stiftung zeigt Ausstellung über den Alltag in jüdischen Ghettos. Eine Zeitzeugin erinnert sich

Die Frage beantwortet sie, ohne lange nachzudenken: „Die Lehre aus der Zeit ist: Sei immer und ständig auf das Schlimmste gefasst.“ Bela Cukierman, die heute in Grunewald lebt, war ein Baby, als ihre jüdische Familie Wolff 1940 aus Deutschland flüchtete. Statt an der Kantstraße 33 in Charlottenburg fand ihre Kindheit in den Slums von Shanghai statt. Über den Alltag in jüdischen Ghettos, vom ersten in Venedig bis zum letzten an der Ostküste Chinas, erzählt vom heutigen Donnerstag an eine Ausstellung der Europäischen Janusz Korczak Akademie in der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Die Wolffs waren wohlhabende Viehhändler, „Drei-Feiertags-Juden“, sagt die 77-Jährige mit einem Augenzwinkern: Nur an wichtigen Feiertagen besann man sich auf Religion und Tradition. Die Kandelaber aus ihren Salons hängte sich nach ihrer Flucht der Hausmeister in die eigene Wohnung.

Die Länder der Welt hatten vor den Verfolgten des Deutschen Reiches kaltblütig die Türen geschlossen. Nur das japanisch besetzte Shanghai nahm in der zweiten Hälfte der 30er-Jahre Flüchtlinge auf. „Dort angekommen, teilten sich meine Eltern und ich in einem der baufälligen Häuser ein Zimmer. Das Leitungswasser konnte man nicht trinken, es gab kein WC, keine Küchen. Die Hitze war so groß, dass sich die Menschen mit Matratzen nachts auf die Straßen legten.“ Berlin, die verkehrsumtoste, elektrifizierte Stadt der Zukunft, schien nicht nur 8000 Seemeilen, sondern Jahrhunderte entfernt.

Von den Nazis gedrängt, ordnete die japanische Verwaltung am 18. Februar 1943 an, dass staatenlose Flüchtlinge, gemeint waren die 20.000 Verfolgten aus dem Deutschen Reich, ins Elendsviertel Honkou umzusiedeln hatten. Der Krieg war Familien wie den Wolffs gefolgt. „Wenn die Bomben fielen, gaben mir meine Eltern Papier und Bleistift. Beim Zeichnen vergaß ich die Gefahr“, sagt Bela Cukierman.

Neben dem Hunger wuchs wieder die Angst im Ghetto. „Das Gerücht kam auf, dass man uns auf Schiffe bringen würde, um sie im Meer zu versenken.“ Und doch blühte das gesellschaftliche Leben. „Little Vienna“ nannten es manche tapfer. „Es gab Theater, die Zeitung ,Shanghai Jewish Chronicle‘, Box- und Fußballvereine“, sagt Bela Cukierman. „Es herrschte ein geldloser Handel. Wer backen konnte, machte Blini, mein Vater bot Fleisch an, und Lehrer gaben Unterricht. Bei ihnen wollte jedermann Englisch lernen, denn alle wollten irgendwann nach Amerika.“

Viele verfolgten die Kriegsgeschehnisse unerlaubt via „Voice of America“ im Radio. Die Wolffs hörten BBC. „Deutschland kapitulierte im Mai 1945. Aber die Japaner kämpften weiter.“ Erst die Kata­strophe der amerikanischen Atombomben bedeutete auch für das Alltagsleben im Ghetto das Kriegsende. „Und dann – ich weiß noch, es war ein Sonnabend – fuhren im Hafen von Shanghai Schiffe ein, aus denen amerikanische Soldaten heraustraten“, sagt Bela Cukierman. Nach den Erlebnissen der zurückliegenden Jahre war das: „der Himmel“.

Alle Verwandten in Europa sind ermordet worden

Aus Listen, die das Rote Kreuz im Ghetto aushängte, erfuhr ihre Mutter, dass sämtliche ihrer Verwandten in Europa ermordet worden waren. Über Israel kehrten die Wolffs im Herbst 1950 schließlich zurück nach Berlin – fast genau zehn Jahre nach ihrer Flucht.

Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, Tiergartenstr. 35, Tiergarten, Mo.–Do. 8.30–19 Uhr, Fr. 8–15 Uhr, Eintritt ist frei