Berlin. Mehr Parkgebühren, weniger Platz für Autos. Mit Berliner Schnauze redete Jens-Holger Kirchner die Senatorin ins Abseits.
Noch bevor Verkehrssenatorin Regine Günther das Mikro am Rednerpult auf Mundhöhe gebogen hat, steht es wieder im Raum, das Gepolter ihres Staatssekretärs. Bettina Jarasch, die ehemalige Landesvorsitzende der Berliner Grünen und Spandauer Direktkandidatin für den Bundestag, hat nach Spandau in den Bürgersaal mit den Ballhaus-Kronleuchtern und den Großvater-Polsterstühlen geladen. Eigentlich war er geladen: Jens-Holger Kirchner. Aber das war, bevor der Staatssekretär das letzte Mal auf einer Podiumsdiskussion gesprochen hatte. Vor Radfahrern. Über Parkgebühren. Viel zu viele Autos parkten viel zu viel Platz auf den Straßen zu, hatte der 57-Jährige gesagt. Als „Frechheit“ hatte er das bezeichnet. Das war dann am nächsten Tag in den Zeitungen zu lesen. Schon rollte die Empörungswelle. Von einer Autophobie des rot-rot-grünen Senats war die Rede. Seither ist es still geworden um Jens-Holger Kirchner. Und Bettina Jarasch bekam einen Anruf aus der Senatsverwaltung für Verkehr: Die Verkehrssenatorin Regine Günther übernehme den Dialog mit den Bürgern.
Jetzt steht Regine Günther mit zartrosa Blazer vor rund 60 Spandauern. Um Verkehrskonzepte für die Zukunft soll es gehen. Jarasch bittet um ein Impulsreferat zu den Plänen des Senats, denn Aufregung habe es in den letzten Monaten genug gegeben. Sie nennt Stichworte: Fahrverbote für Dieselfahrzeuge, das Radgesetz, Kirchners Parkraumbewirtschaftung. Günther lässt das letzte Stichwort unbeachtet und sagt: „Ich bin hier, um zu hören, was Ihnen im Bezirk auf den Nägeln brennt.“ Dann zeigt sie eineinhalb Stunden lang, dass eine Diskussion mit Günther anders läuft als mit Kirchner. Das Wort Gleichberechtigung spielt eine wichtige Rolle, ihr ruhiger Ton auch.
Jemand schlägt vor, man solle sich in Sachen Schnelligkeit beim Straßenbahnausbau am türkischen Präsidenten Erdogan orientieren. „In Istanbul haben sie in wenigen Jahren viele neue Tramlinien gebaut“, brummelt der Mann. Günther schüttelt kaum wahrnehmbar mit dem Kopf. Dann erklärt sie: 14 Trassen sind in Vorbereitung. Noch sei Spandau nicht an der Reihe, man werde für höhere Kapazitäten bei den Buslinien sorgen. Sachlichkeit statt Emotionen, so geht der Dialog mit der Verkehrssenatorin.
„Wer in Berlin Auto fährt, hat zuviel Zeit“
Anders bei Jens-Holger Kirchner. Der stand in den ersten Monaten des rot-rot-grünen Senats beinahe wöchentlich mit Sätzen wie diesen in der Zeitung: „Wer in Berlin Auto fährt, hat zuviel Zeit.“ Oder: „Wir werden die Hauptverkehrsstraßen für Autos einspurig machen. Wir brauchen den Platz nämlich für andere.“ Günther habe ihm in der Verkehrspolitik freie Hand gelassen, sagt der verkehrspolitische Sprecher der FDP, Henner Schmidt. Für Oliver Friederici (CDU), Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Abgeordnetenhaus, sind Kirchners Vorstöße ein Zeichen für grüne, innerstädtische Klientelpolitik. Kirchner, der Autoschreck, Kirchner, der Parkplatzvernichter, Kirchner, der Elefant im Porzellanladen – sagen seine Gegner.
Und was sagt Kirchner? Was treibt den 57-Jährigen an? Führt er einen Feldzug gegen den Berliner Autofahrer? Und wo steckt er eigentlich? Seit über zwei Monaten ist Funkstille, keine Interviews, keine markigen Sprüche. Der Staatssekretär konzentriere sich auf seine Arbeit, heißt es in der Pressestelle. Über Monate verweigert die Senatsverwaltung ein Treffen mit Kirchner. Wer mehr über Kirchner erfahren will, muss Menschen fragen, die ihn kennen.
„Wir haben uns damals als Künstler verstanden“
Martin Sorge zum Beispiel. Wäre Kirchner nicht in die Politik gegangen, er sähe heute vielleicht so aus wie sein früherer Weggefährte aus dem Hausbesetzerkiez im Prenzlauer Berg: ein verschlissenes Lederetui am Gürtel, Schmieröl unter den Fingernägeln. Martin Sorge schreibt sich selbst Martyn, Jens-Holger nennt er Nilson. „Wir haben uns damals als Künstler verstanden“, erklärt Sorge die Spitznamen. Damals, das ist Mitte der 80er. Wir, das ist die Bürgerinitiative Spielwagen Berlin. Eine Truppe mit Zottelbärten und John-Lennon-Brillen. Den „abenteuerlichen Bauspielplatz“ in der Kollwitzstraße haben sie gebaut, und sie wollten in der DDR Unerhörtes: Kindern und Eltern die Plätze ihrer Stadt zurückgeben. Mit einem alten Möbelwagen voller Kostüme und Spielen stellten sie sich an Tankstellen, ließen sich für 20 Ostmark vom Lkw durch die DDR schleppen, nach Leipzig, Schwedt, Magdeburg.
Ein Bild aus dieser Zeit zeigt Jens-Holger Kirchner als einen schmächtigen Kerl, der mit Bassgitarre und Propellerhut auf einer Bühne herumspringt. „Klarer Wintertag“ hieß die Band und währte eine Faschingsaktion lange. Nilson, ein Party-Typ? Sorge schüttelt den Kopf und zeigt ein Bild von einer nächtlichen Besprechung. Alle haben ein Bierglas in der Hand, Kirchner eine Tasse Tee. Er habe nie etwas anderes getrunken, erzählt Sorge. Bis heute trägt Kirchner in seiner Aktentasche immer eine Thermoskanne Tee mit sich herum.
Nach dem Fall der Mauer ging es in die Politik
Kirchner, der gelernte Tischler, wusste schon damals, wie man Wellen schlägt. Sorge erzählt vom Verbot einer Jubiläumsfeier des Spielwagens. Grund: Die Stasi konnte nicht genügend Bewacher auf den Kollwitzplatz schicken. Kirchner zog sich und Sorge damals Latzhosen und verschmierte Tischlerschürzen über, stürmte ins Kultusministerium und klagte über die Unterdrückung der Arbeiter. Das Fest konnte stattfinden.
Bei manchen Kollegen eckte Kirchner an. Bei solchen, die auf Regeln und Verordnungen pochten, wenn er und Sorge mal wieder eine verrückte Idee hatten. Sein Vorpreschen und die Berliner Schnauze, sie sollten Kirchner auch später viele Sympathien und so manchen Ärger einspielen.
In die Politik rutschte Kirchner mit dem Fall der Mauer. Runder Tisch im Prenzlauer Berg, Bezirksverordnetenversammlung, Jugendhilfeausschuss, ab 2006 dann Stadtrat in Pankow. Erst für öffentliche Ordnung, dann für Stadtentwicklung. Von Pankow aus machte er bundesweit Schlagzeilen. Mit seiner Ekelliste etwa, also der öffentlichen Rüge unhygienischer Restaurants. 2011 ließ Kirchner die Kastanienallee sanieren, Parkplätze vor Läden streichen. Die Bürgerinitiative „Stoppt K21“ schrie auf, als die Gehwege schon aufgerissen waren – und scheiterte. Wenn eine Idee Wirkung versprach, sah Kirchner auch schnell über grüne Tabus hinweg. Wegen der Vermüllung von Parks ließ er in Law and Order-Manier Schilder mit Worten wie „streng“ und „verboten“ aufstellen.
Im Frühjahr 2014 ging die vermeintliche Strategie nach hinten los
Torsten Kühne (CDU) war ab 2011 Kirchners Kollege im Pankower Bezirksamt. Nicht nur er glaubt, eine Kirchner-Strategie erkannt zu haben. Die geht in etwa so: Mit kühnen Ideen an die Öffentlichkeit gehen, der Rest ruckelt sich dann schon zurecht. „Ich glaube, er genießt es auch immer, ein Stück weit zu provozieren“, sagt Kühne.
Im Frühjahr 2014 ging die vermeintliche Strategie nach hinten los. Die Idee: das Eco-Mobility-Festival, eine Premiere der Stadtmobilität von übermorgen. Vier Wochen lang sollten Dieselautos und Benziner im Helmholtzkiez in Prenzlauer Berg ausgesperrt, nur Elektromobile reingelassen werden. Wo, wenn nicht hier, dachte Kirchner: Hochburg der Grünen, eingerahmt durch Linien von U-, S- und Straßenbahn, nicht mal jeder Dritte im Kiez hat ein Auto. Nur hatte Kirchner nicht damit gerechnet, dass auch ein Drittel der Anwohner und all die Ladenbesitzer, die auf Lieferverkehr angewiesen sind, für ordentlich Gegenwind sorgen können. Vom Alleingang seines Stadtrats erfuhr der damalige Bezirksbürgermeister Matthias Köhne (SPD) aus der Zeitung. Nach hitzigen BV-Versammlungen und Vier-Augen-Gesprächen twitterte Köhne: „Das Bezirksamt hat heute dem Projekt autofreies Helmholtzquartier den Stecker gezogen.“
Nach der Abgeordnetenhauswahl im vergangenen Jahr schien Kirchner der Posten als Berliner Verkehrssenator sicher. Aber der mächtige Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg der Berliner Grünen hatte bereits Dirk Behrendt als Justizsenator durchgesetzt, und die Grünen wollten zwei Frauen im neuen rot-rot-grünen Senat. Für den Realo Kirchner blieb kein Platz mehr.
Kirchner gibt aus der zweiten Reihe den Takt an
Kirchner wurde Staatssekretär – und gibt in der Verkehrspolitik auch aus der zweiten Reihe den Takt an. Diesen Eindruck hinterlassen nicht nur seine markanten Auftritte, auch Mitglieder des Verkehrsausschusses und Mitarbeiter der Senatsverwaltung nehmen das so wahr. Die Klimaexpertin Günther musste sich in das Thema Verkehr erst einmal neu einarbeiten, Kirchner stieg lediglich von der Bezirks- zur Landesebene auf. Seine Expertise in Sachen Verkehr spricht ihm noch nicht einmal die Opposition ab.
Aber nachdem Günther in den ersten Monaten immer wieder damit beschäftigt war, Kirchners Alleingänge abzufedern, war ihre Geduld spätestens mit dem Vorstoß zu den Parkgebühren am Ende. Sie selbst spricht von unterschiedlichen Kommunikationsstilen, man habe sich gut eingespielt. Aber: „Wenn wir etwas zugespitzt formulieren, dann sollten wir das auch politisch einzahlen.“
Wer erleben will, wie Kirchner in Fahrt kommt, sollte mit ihm aufs Fahrrad steigen. Ein diesiger Tag in Berlin. Der Senat hat gerade einen kleinen Schritt hin zu mehr umweltbewusster Mobilität getan: Kirchner gibt den Startschuss am Gendarmenmarkt für das städtische Mietradsystem Nextbike. Er posiert vor Fotografen mit einem der geschwungenen Leihräder, Schiebermütze und visionärem Blick. Der Pressesprecher ist weg. Testfahrt? Warum nicht? Kirchner schnallt seine Aktentasche vor den Lenker und fährt an die Spitze des Leihradkorsos. Die Straße ist blockiert, hinten wummern Bassboxen auf einem Lastenrad. „Nicht so schnell, Herr Staatssekretär“, ruft ihm eine Frau mit blauer Nextbike-Kappe hinterher. Mitten auf der nächsten Kreuzung tritt Kirchner in die Rücktrittsbremse, stellt das rechte Bein auf die Fahrbahn, die rechte Hand streckt er einem weißen Kombi entgegen. Rechts vor Links? Ausgehebelt, bis Dutzende Räder passiert sind. Ob die Fahrt bei der Polizei angemeldet ist? „Keine Ahnung“, sagt Kirchner, „es steht nirgendwo, dass es verboten ist, mit ein paar Rädern auf der Straße zu fahren.“
„Fußgänger waren damals die Neandertaler“
Kurz vor dem Potsdamer Platz erzählt Kirchner von der Individualisierung der Gesellschaft, vom Berliner Autofahrer, der sich so schnell seiner Freiheit beraubt fühle. Dann fällt ihm ein „Abendschau“-Beitrag aus den 60er-Jahren ein. Ein Autobahnabschnitt wurde eingeweiht, und die Redner verbreiteten ihre Vision einer Stadt der Autofahrer. „Zu Fuß sollten wir damals nur noch zur Erholung im Park laufen. Fußgänger waren damals die Neandertaler.“ Und heute sind das die Autofahrer? „So würde ich das nicht sagen.“ Am Potsdamer Platz endet der Korso mit Reggae-Musik und Gratis-Äpfeln.
Nach der gemeinsamen Radfahrt stimmt die Pressestelle der Senatsverwaltung irgendwann doch zu, dass es ein Gespräch mit Kirchner geben darf. Der Staatssekretär ist gerade von einem Segeltrip auf der Ostsee zurück, empfängt mit Leinenhemd und Stoppelbart in Büro 308 der Senatsverwaltung am Köllnischen Park. Ein Luftbild der U2-Haltestelle Eberswalder Straße lehnt noch an der Wand, Stadtbaupläne hängen bereits.
Und, wo war er in den letzten Wochen? „Ich habe viel Arbeit“, sagt Kirchner. Mobilitätsgesetz, Haushaltsverhandlungen. Dass er den Rummel um seine provokanten Aussagen genieße, wischt Kirchner vom Tisch. „Verkehr betrifft nun mal alle in dieser Stadt. Kontroverse Diskussionen sind normal. Wenn das nicht so wäre, würde ich mir Sorgen machen.“ Hat Regine Günther jetzt das Ruder in Sachen Verkehrspolitik an sich gerissen? „Das klingt so nach Machtkampf. Quatsch! Wir arbeiten vertrauensvoll und konstruktiv zusammen.“ „Vertrauensvoll“, „konstruktiv“ – so sagen das Politiker. Der Pressesprecher ist bei dem Gespräch im Raum dabei. Kirchner weist dann noch mehrfach auf die Worte der Verkehrssenatorin hin, spricht von Flächengerechtigkeit auf den Straßen, von mehr Sicherheit für alle durch sichere Radwege, von der Mobilitätskette, umweltfreundlich, digital organisiert, schnell.
Eine Radbahn unter der U-Bahn findet er interessant
Irgendwann kommt die Sprache auf das Eco-Mobility-Festival im Helmholtzkiez. Kommunikationsprobleme habe es da gegeben, sagt er rückblickend. Gelernt habe er: „Das mit den guten Ideen dauert manchmal länger als man denkt.“ Wenn ihn etwas an Berlin nervt, dann sei es das ewige Genörgel, diese Skepsis gegenüber Neuem. Als Beispiel nennt er die Radbahn unter der U-Bahnlinie 1. „Zumindest abschnittsweise ausgesprochen interessant“, findet Kirchner das Vorhaben. „Auf jeden Fall eine mutige Idee. Das passt doch zu Berlin, sollte man denken.“ Aber wird da nicht gerade schon gebaut, eine Radspur zwischen Kottbusser Tor und Zossener Brücke, nicht unter, sondern neben der Hochbahn? Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche müsse diese Stadt aushalten, sagt Kirchner.
Wohl auch diesen hier: Einmal hat Kirchner, der bekennende Fahrradfan, mit seinem Auto in einem Mecklenburger Forst ein Wildschwein gerammt. Seitdem ist er, der Autoschreck, ADAC-Mitglied.
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