Der Vertuschungsskandal um den Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri weitet sich aus: Ermittler haben in den Akten inzwischen weitere Manipulationen durch Mitarbeiter des Berliner Landeskriminalamtes festgestellt. Dies sagte Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Sonnabend der Berliner Morgenpost. „Damit verfestigt sich der Eindruck, dass es sich bei den ersten Löschungsversuchen nicht um Zufall handelt“, unterstrich der Senator. „Es war also richtig, Anzeige wegen Strafvereitelung im Amt und Urkundenfälschung zu erstatten.“
Nach Informationen der Berliner Morgenpost wurden laut neuestem Ermittlungsstand nicht nur Erkenntnisse über Amri gelöscht, die auf „gewerbsmäßigen, bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln“ hinwiesen. Die Beamten haben – wie sich jetzt wohl herausstellte – auch Namen aus dem Drogen-Täter-Umfeld von Amri gelöscht. Offenbar ein weiterer Versuch, das Ausmaß des Drogenhandels von Anis Amri zu verharmlosen und Fehler zu vertuschen.
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Zu den Details wollen sich Geisel und der externe Sonderermittler Bruno Jost am Montag in der Sondersitzung des Innenausschusses des Abgeordnetenhauses äußern.
Der Tunesier Anis Amri hatte am 19. Dezember einen polnischen Lastwagen gekapert und war damit in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gerast. Zwölf Menschen starben, 67 wurden verletzt. Es war der bisher folgenschwerste islamistische Terroranschlag in Deutschland. Seit April überprüft der Sonderermittler Jost den Umgang der Behörden mit dem Fall Amri. Anders als in Nordrhein-Westfalen hat Berlin keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Doch der Ruf danach wird nach den jetzt bekannt gewordenen Vertuschungsversuchen lauter.
Vorige Woche hatte der Senator darüber informiert, dass Beamte des Staatsschutzes eine LKA-Akte mit der Zusammenfassung der Telefonüberwachung Amris offenbar manipuliert haben. Das Dokument wurde zurückdatiert und der zwölfseitige Vermerk auf vier Seiten gekürzt. In dem vom 17. Januar auf den 1. November 2016 rückdatierten Bericht wird Amri beschrieben als jemand, der „möglicherweise Kleinsthandel mit Betäubungsmitteln“ begangen habe. Aus der Szenegröße Amri, die banden- und gewerbsmäßig mit Drogen handelte, wurde also in den Polizeiakten nachträglich der Kleinkriminelle Amri. Dies wäre kein Haftgrund gewesen.
Innensenator Geisel weist Vorwürfe zurück
Geisel zufolge weisen die Erkenntnisse darauf hin, dass Amri vor dem Attentat wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels aber hätte festgenommen werden können. Er sprach sich dafür aus, islamistische Gefährder nach dem Al-Capone-Prinzip künftig einem Gesamtblick zu unterziehen und alle ihre Straftaten zu beurteilen. Al Capone war wegen Steuerhinterziehung verurteilt worden.
Der Innensenator wies am Sonnabend Vorwürfe entschieden zurück, wonach ihm die Informationen über Amris gewerbsmäßig betriebenen Drogenhandel schon länger bekannt waren. Laut „BZ“ lagen sie der Senatsverwaltung seit Monaten vor. Geisel sagte der Berliner Morgenpost, der politischen Spitze der Innenverwaltung sei dies keineswegs bekannt gewesen. Der Vorwurf, er habe davon gewusst, sei absurd.
Berlins Regierender Bürgermeister und SPD-Landeschef Michael Müller lobte seinen Parteifreund Geisel auf der Landesvertreterversammlung für den offenen Umgang mit dem Aktenskandal im Fall Anis Amri. „Ich bin froh, dass wir einen sozialdemokratischen Innensenator in unserer Stadt haben“, sagte Müller. Geisel sei als Innensenator sofort mit den neuen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit gegangen – „aber ohne Pauschalkritik an der Polizei und an den Sicherheitsbehörden“, so Müller weiter. „Das ist sozialdemokratische Innenpolitik.“ Dies ist als Seitenhieb auf die CDU zu verstehen, die mit Frank Henkel in der vergangenen Legislaturperiode den Innensenator stellte.
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