Gute elf Kilometer sind es von ihrer Wohnung in Friedrichshain bis ins Architekturbüro in Schöneberg. Mit dem weißen Klapprad, bei Gegenwind, braucht Neira Mehmedagic dafür am Donnerstag 50 Minuten. Sicher fühlt sie sich dabei nur streckenweise. Besonders kritisch: das Stück vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor, Unter den Linden, zwischen Betonmischern, Lieferwagen und Autos. „Auf dem Busstreifen, mit ständigen panischen Blicken nach hinten, ob nicht gleich ein Doppeldeckerbus angerollt kommt – das ist nur so semigeil“, sagt die 29-Jährige in breitem Oberösterreichisch.
Vor eineinhalb Jahren, nach dem Studium in Graz, ist sie nach Berlin gezogen. Dass das Radfahren hier etwas mehr Mut abverlangt als in der Studentenstadt mit den breiten Fußgängerzonen, hat Mehmedagic schnell erkannt. Dass Berlin jetzt als erstes Bundesland ein Fahrradgesetz bekommen soll, dass in Radschnellwege, Abstellplätze und sichere Kreuzungen investiert werden soll, dazu sagt die Österreicherin: „Super!“ Den täglich rund 500.000 Radfahrern in Berlin dürfte sie damit aus der Seele sprechen. Die Diskussion zum Fahrradgesetz im Abgeordnetenhaus verlief dennoch kontrovers.
Dort prallten Adjektive wie „willkürlich“ und „autofeindlich“ auf jene wie „bahnbrechend“ und „zukunftweisend“ – sie alle bezeichneten die Verkehrspolitik des Senates. Unmittelbar nachdem am Donnerstag Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) zusammen mit dem Initiator des Rad-Volksentscheids, Heinrich Strößenreuther, die Eckpunkte für das geplante Radgesetz vorgestellt hatte, stritten die Fraktionen im Parlament über die richtige Verkehrspolitik. „Ich warne davor, in alte Beißreflexe zu verfallen“, appellierte die Verkehrssenatorin. Vergebens.
Verordnete Moral oder überfällige Maßnahmen?
CDU, AfD und FDP kritisierten die Pläne des Senates für einen umfassenden Umbau der Verkehrsströme als einseitig und falsch. „Sie spielen die Berliner gegeneinander aus“, sagte CDU-Fraktionschef Florian Graf. „Innenstadt gegen Außenbezirke, Autofahrer gegen Radfahrer.“ Für FDP-Verkehrsexperten Henner Schmidt „gefällt sich der Senat in willkürlichen, autofeindlichen Vorschlägen“. Frank Scholtysek von der AfD befürchtete, dass „Rot-Rot-Grün beabsichtigt, die Berliner zwanghaft zu besseren Menschen zu machen“.
Dagegen verteidigte die Koalition die Pläne. „Wir wollen eine Verkehrspolitik, die allen dient“, sagte Günther. Dazu gehört nach Überzeugung der Verkehrssenatorin, dass der stark steigende Radverkehr einen angemessenen Platz im Straßenverkehr erhalte. 2016 habe sich die Zahl der getöteten Radfahrer um 40 Prozent auf 17 erhöht, begründete Günther die Pläne des Senates. Radfahrer würden unverhältnismäßig häufig in schwere Unfälle verwickelt. Bei allen verkehrspolitischen Maßnahmen stünde die Sicherheit an erster Stelle. „Wir wollen, dass alle zwischen acht und 80 Jahren sich sicher auf dem Rad fühlen“, sagte Günther.
Um das zu erreichen, soll das Radwegenetz in der Stadt in den kommenden Jahren massiv ausgebaut werden. An allen Hauptstraßen sollen sichere Radwege entstehen, die baulich von der Straße getrennt verlaufen, wie es zum Beispiel bereits an der Straße des 17. Juni der Fall ist. Außerdem sieht das künftige Radgesetz den Bau von 100 Kilometern Radschnellwegen vor, die vor allem Pendler zum Umstieg vom Auto auf das Rad bewegen sollen. Für die Umsetzung stehen jährlich 51 Millionen Euro zur Verfügung. Der Initiator des Rad-Volksentscheids, Heinrich Strößenreuther, kündigte am Donnerstag an, den Volksentscheid nicht weiterzuverfolgen, sollte das Radgesetz wie geplant im Herbst vom Abgeordnetenhaus beschlossen werden.
Darauf hofft auch Christian Wolk. Er ist 67 Jahre alt, seit einem Jahr Rentner und seit acht Jahren Besitzer eines schwarzen Tourenrades mit gefederter Lenkergabel. „7000 Kilometer bin ich damit in Berlin gefahren“, sagt Wolk. Jeden Tag zur Arbeit etwa: von Bayerischen Platz nach Mariendorf. Natürlich begrüße er die Pläne des Senates, schließlich stiegen immer mehr Menschen auf das Rad um – und für diese Menschen müsse im Straßenverkehr der entsprechende Platz geschaffen werden. Besonders wünscht er sich für lange Strecken vom Zentrum in die Außenbezirke ein durchgängiges Radwegenetz.
Aber für ebenso wichtig wie städtische Investitionen hält Wolk menschliches Umdenken: „Mindestens genauso gefährlich wie die maroden Radwege an manchen Stellen ist die Intoleranz der Verkehrsteilnehmer – und die gibt es auf allen Seiten.“ Man müsse daran arbeiten, dass Radfahrer und Autofahrer mehr auf einander achten. Ob dabei ein Gesetz, hilft, das Platz für Räder schafft und Platz für Autos streicht, daran zweifelt Christian Wolk.
Beim Fahrradgesetz geht es nicht allein ums Rad
Berlin hat jetzt als erstes Bundesland ein Fahrradgesetz