Arye Sharuz Shalicar, Jahrgang 1977, ist Sohn iranischer Juden. In den 70ern zog er mit seiner Familie nach Berlin. Er wuchs in Wedding auf und gründete dort die berüchtigte Jugend-Gang „Berlin Crime“, um sich im mehrheitlich muslimisch geprägten Bezirk Respekt zu verschaffen. 2001 wanderte er wegen ständiger antisemitischer Anfeindungen nach Israel aus und machte Karriere in der israelischen Armee, wo er zum Major aufstieg. Heute ist er Regierungsmitarbeiter. Über seine Jugend in Berlin hat er ein Buch geschrieben, das 2010 erschien: "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude: Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde" (dtv 2010).
In Friedenau wurde ein 14-jähriger jüdischer Schüler von seinen Eltern von der Schule genommen, weil die Angriffe durch türkisch-arabische Mitschüler zu schlimm wurden. Das dürfte Ihnen bekannt vorkommen.
Ich habe genau in diesem Alter das gleiche erlebt. Das war Anfang der Neunziger. Ich hatte als Sohn iranischer Juden keinerlei Bezug zu Israel, konnte nicht mal hebräisch. Dennoch wurde ich schikaniert, als Jude und als vermeintlicher Israeli, in erster Linie von Arabern, aber auch von Türken.
Ein ehemaliger Freund des Jungen soll gesagt haben: „Du bist eigentlich ein cooler Typ, aber ich kann nicht mit dir befreundet sein. Juden sind alle Mörder."
So etwas kenne ich, das habe ich jeden zweiten Tag gehört. Nicht nur das. Mein bester Freund in der neunten Klasse war ein indischer Moslem. Als ich mich ihm gegenüber als Jude geoutet habe, hat er gesagt: Ich erkenne einen Juden von weitem. Du bist mein Freund, du kannst kein Jude sein. Alle Juden sind schlecht.
Ein Jude auf Heimatbesuch in der „No-go-Area“
Was können Schulen gegen so etwas tun?
Antisemitismus ist ein Riesenproblem und nicht so einfach aus der Welt zu schaffen. Es geht nicht nur um Fundamentalismus, auch um diese Macho-Kultur. Das kriegen viele von klein auf vor allem durch ihre Väter vermittelt. Das ist ein kulturelles Problem das viele Leute aus Nordafrika, Zentralasien und hauptsächlich dem Nahen Osten mitbringen. Das ist eine andere Welt, die dann nach Deutschland übertragen wird, quasi per copy and paste. Natürlich gibt es auch da liberale, westliche, demokratische Leute. Aber die werden angepöbelt, gemobbt, geschlagen und sogar mehr als das, von den Leuten, die ihre Gewaltkultur mitbringen.
Es gibt jedes Jahr diese Statistiken über antisemitische Übergriffe in Deutschland. Das ist großer Bullshit. Ich habe selbst hunderte von antisemitischen Attacken am eigenen Leib erfahren und keine einzige davon gemeldet. Insofern kann man die Statistiken komplett vergessen. Das Problem ist weitaus größer, vor allem in den schwierigen Bezirken. Man muss härter durchgreifen, man darf diese Leute nicht einfach machen lassen wie sie wollen. Der ehemalige Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky hat darüber ein Buch geschrieben. Er hat die Probleme erkannt und versucht, sie zumindest zum Thema zu machen.
Bei vielen Leuten gibt es einfach kein Problembewusstsein. Wenn das Thema mal wieder aufkommt, kratzen sich viele am Kopf und denken: Echt? Bei uns hier in Deutschland, in Berlin? Das kann nicht sein, da übertreibt doch jemand. Es wird abgetan. Aber das ist ja, wie man an meinem Beispiel sieht, keine neue Entwicklung. Muslimisch geprägter Antisemitismus ist seit über einer Generation ganz fest in Deutschland verankert.
Viele Lehrer reagieren eher hilflos.
In Berlin gab es das Beispiel der Rütli-Schule in Neukölln, wo Lehrer irgendwann vor der Gewalt der vor allem muslimischen Schüler eingeknickt sind. Aber was auf der Rütli-Schule passiert ist, hat in mindestens der Hälfte der Schulen im Wedding stattgefunden, auf allen Haupt- Gesamt- und Realschulen und teilweise sogar auf dem Gymnasium. Schon zu meiner Zeit hatten viele Lehrer keine Zeit, sich wirklich die Probleme anzuhören. Es gab keinen einzigen Lehrer der mich mal gefragt hat: Was geht eigentlich in dir vor, was macht dir Sorgen? Brauchst du Hilfe? Das ist damals nicht vorgekommen.
Ein härteres Durchgreifen bei denen, die wirklich böse waren, gab es auch nicht, weil man vor denen teilweise Angst hatte. Die kommen ja nicht allein, oft kommen die in Banden oder Familienclans, wie etwa die libanesischen Clans mit oft hunderten Mitgliedern. Es liegt nicht in der Kultur der Deutschen, sich mit irgendjemandem anzulegen. Man geht Konflikten aus dem Weg. Das siehst du schon in der S-Bahn wenn zwei Leute anfangen, herumzupöbeln, guckt jeder weg.
Einmal die Blickrichtung wechseln
Sie haben sich entschieden, wegen der Anfeindungen nach Israel auszuwandern.
Jeder muss für sich entscheiden, was gut ist. Dieses ewige auf mir herumtrampeln hat mich damals dazu gebracht zu erforschen: Woher komme ich wirklich, wer bin ich wirklich? Mit der Zeit habe ich mehr und mehr Interesse am Judentum und an Israel entwickelt, und habe mich dann entschieden, auszuwandern. Ich musste mich ständig erklären, das hat genervt. Das Versteckspiel hatte ich satt und habe mir in Israel ein neues Leben aufgebaut. Das empfehle ich aber nicht jedem, weil es keine einfache Sache ist, als junger Mensch einfach das Land zu wechseln. Flucht ist auch nicht immer der richtige Weg, man muss auch versuchen, die Probleme anzugehen. Ich habe das versucht, war aber damals im Wedding der einzige Jude. Für mich war das eine Mission Impossible.
Haben Sie Ihre Ausreise als Kapitulation empfunden?
Ich habe ja keinen Krieg geführt gegen die Muslime in meinem Bezirk. Wenn ich von einer "Mission Impossible" spreche, ist das auch nicht ganz wahr. Ich habe bis heute eine Handvoll muslimischer Freunde, die mich von damals kennen und zu mir stehen. Sie haben mich damals als kleinen Juden kennengelernt und behandeln mich auch jetzt, 25 Jahre später, immer noch wie einen Bruder. Das ist die schöne Seite meiner Geschichte. Aber wer weiß, hätten sie mich nicht kennengelernt, würden sie vielleicht anders über Juden denken. Ich habe damals nicht kapituliert. Aber irgendwann muss jeder für sich entscheiden, wie und unter welchen Umständen er in dieser Welt leben möchte. Für mich ist gut, dass ich in Israel lebe. Für mich ist es gut, dass mir dieses Land Sicherheit gibt. Ich kann mich hier als Jude frei bewegen.
An Berliner Schule: "Antisemitismus übelster Art"
Strafanzeige gegen Schüler nach antisemitischen Vorfällen
„Jude“ ist an Berliner Schulen wieder ein Schimpfwort
„Fallt bloß nicht auf“ - Berliner Juden sind verunsichert