Schon am dunklen Morgen lässt sich im neonhellen Geschäft ein Mann mit Hipsterbart die Frisur stutzen. Zwei Türen weiter saß einst die Staatssicherheit der DDR und lauschte in die Diplomatenwohnungen des Neubaublocks. Dazwischen starrt jetzt Philipp Geist in seinem Künstleratelier an der Leipziger Straße in Mitte auf den Monitor und versucht nicht weniger, als zu kitten, was in Deutschland während der Silvesternacht 2015 am Fuß des Kölner Doms zu Bruch ging. Seitdem er den Auftrag aus dem Rheinland erhielt, hat ein Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz Tod und Trauer nach Deutschland gebracht. Ob sich die Erwartungen an das, was Geist in Köln leisten muss, überhaupt erfüllen lassen, ist fraglich.
Beim Jahreswechsel 2015/16 war es nahe dem Kölner Dom, rund um den dort angrenzenden Hauptbahnhof massenhaft zu sexuellen Übergriffen und Diebstählen gekommen. Von der Polizei ungehindert, konnten mehrere Hundert Männer Frauen bedrängen und bestehlen. 1200 Anzeigen wurden gestellt. Zeugen beschrieben die Täter als Araber und Nordafrikaner. Mitten in die Diskussion, wie viele Asylbewerber Deutschland verträgt, platzte die Nachricht, dass unter den Angreifern viele Flüchtlinge waren. Silvester 2016 sollen nun 1500 Polizisten das Areal sichern. Rund zehn Mal so viele wie im Vorjahr. Denn diesmal blickt die ganze Welt auf Köln. Damit die Silvesterfeier nicht als Hochsicherheitsveranstaltung wirkt, verpflichtete man den 40-jährigen Philipp Geist.
Blickfang ist eine Wand mit 50 Familienbildern
Die Berliner konnten seine Kunst 2012 beim Festival of Lights auf dem Potsdamer Platz erleben, nachzusehen unter videogeist.de. 14 Projektoren strahlten Wörter, die von den Bürgern zuvor zu den Themen Berlin, Potsdamer Platz, Zeit, Raum und Licht eingesendet worden waren, auf den Bürgersteig. Dazu wurden der Kollhoff-Tower und das Renzo-Piano-Haus mal in wilde, mal in milde Farben getaucht. Beim Betrachter sorge das für „Gänsehaut“, schrieb die Berliner Morgenpost damals.
Geist lässt mit Licht Vorhänge vor Fassaden herabgleiten und sorgt dafür, dass sich Häuserfronten hervorwölben, als drücke von innen eine riesige Kugel dagegen. Er nimmt Stadtbereiche und macht etwas völlig Neues aus ihnen – genau das, was die Kölner Politik nun für die Hauptbahnhofsgegend ersehnt.
Seit 17 Jahren arbeitet Geist in Berlin. 13 Jahre davon in Prenzlauer Berg. „Irgendwann wurde mir es dort zu homogen.“ Inzwischen wohnt er mit Frau und drei Söhnen im Alter zwischen ein und sechs Jahren in Alt-Treptow. Dort gibt es Grün und einen Garten, wie in Geists Kindheit im bayerischen Weilheim. „Das wollten wir so für unsere Söhne.“
Eine Wand mit 50 Familienbildern
Wer sein Atelier betritt, denkt als Erstes: „Familie“. In den Regalen stapeln sich zwar DVD-Rohlinge, Hefter und Zeitschriften, den Arbeitstisch bedecken Kabel, Ladegeräte, eine indische Zeitung, die über seine Show dort berichtet, und dahingeworfene Münzen aus dem afrikanischen Senegal, wo er ebenfalls jüngst eine Installation zeigte. Aber Blickfang ist eine Wand mit 50 Familienbildern. „Ich versuche, nicht länger als zehn Tage fort zu sein von zu Hause“, sagt Geist. Bekommt er das hin, gibt es am Wochenende Crêpes für alle und Abstecher zum Ufer der Spree. „Im Atelier herrscht kreatives Chaos“, sagt er. „Die Ordnung findet man bei uns daheim. Das muss auch so sein. Meine Technik würde man dort ziemlich schnell auseinandernehmen.“
Seine Arbeitsstätte ist einer jener versteckten Orte der Stadt, die die Wende hinterlassen hat. Von einer unscheinbaren Tür geht es entlang eines wackeligen Geländers in die erste Etage und in ein weiß getünchtes Foyer mit blickdichter Glaswand. Dahinter rauscht gedämpft hörbar der Verkehr der Leipziger Straße. Von einem Gang gehen wie in einer Behörde Büros ab, die jetzt Künstler nutzen. „Den Boden dürfen wir nicht verändern“, sagt Geist amüsiert. Die Auslegeware mit grün-schwarzem Ost-Muster ist abgenutzt und mit Klebeband ausgebessert. Was hier zu DDR-Zeit vorging? Geist hat es nie erfahren.
„Time Drifts Cologne“
Zurück im Atelier scrollt er durch die neuesten Mails. Für seine Kölner Schau mit dem Titel „Time Drifts Cologne“ hat er die Bürger eingeladen, ihm Wünsche und Wörter für das neue Jahr zu senden, die er auf den Platz und in einen künstlichen Nebel projizieren will, acht Stunden lang. Da sollen, wie 2012 in Berlin, Begriffe vorbeisausen und über die Besucher gleiten. „Sie schicken Worte und Appelle wie: ,Integration’, ,Sicherheit für Frauen und Mädchen immer und überall’, aber auch ,Apokalypse’ und ,Risikogemeinschaft’“, sagt der Künstler.
Hat sich seine Aufgabe nach dem Anschlag von Berlin verändert? Geist, der im Gespräch keine langen Denkpausen einlegt, weil er, wie es scheint, die meisten Nuancen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens längst erforscht hat, sagt also: „So schrecklich das Berliner Attentat war, und so geschockt man ist: Das ganz Entscheidende bleibt die Feststellung, dass es nichts bringt, jetzt die Angst in den Vordergrund zu stellen. Was ich zeigen wollte und weiterhin zeigen will, ist, dass es nicht um die Furcht gehen darf.“ Der Anschlag habe „das Herz von Berlin“ getroffen. „Aber das darf nicht bedeuten, dass man nun nicht mehr in die Öffentlichkeit und auf Weihnachtsmärkte geht.“ Dass diese in Berlin nach dem Attentat wieder öffneten, halte er für das richtige Signal.
Der Ton der Worteinreichungen für Köln habe sich seit Berlin nicht geändert. „Ich war selbst überrascht“, sagt er. Ihn erreichten stattdessen Sendungen wie: „Versöhnung“, „urban“ und „Demut“. „Keiner hat versucht, das Kölner Projekt zu instrumentalisieren, es gab keine Hetze“, sagt Geist. „Es herrschen unter den Menschen offenbar große Erwartungen an das Projekt.“ So wird nun beim bevorstehenden Jahreswechsel die ganze Welt auf den ehemaligen Tatort Köln blicken. Von dort wird Philipp Geist eine Botschaft aussenden, die man schon am Tag nach dem Terroranschlag vom Breitscheidplatz in Berlin vernahm: Jetzt zählt nicht die Angst, sondern das Trotzdem.