„Da will ick hin. Danach kannick sterben“: Papst Franziskus hat 4000 Bedürftige nach Rom eingeladen. 16 Gäste kamen aus Berlin.
Donnerstag, 8.55 Uhr
„Det Flugzeug stürzt ab. Nee, oder?“ Sven zieht die Stirn in Falten und schaut sich um. Wir sitzen im Sicherheitsbereich im Flughafen Tegel, eigentlich sollte unser Flieger nach Rom jetzt starten. Alle anderen Fluggäste sitzen schon drin, aber bis auf uns zwei ist unsere Reisegruppe noch immer in den Kontrollen. Neun Uhr, der letzte Aufruf nach Rom, mir bricht der Schweiß aus. Und jetzt? Ich kenne die anderen nicht, habe sie nur am Morgen kurz gesehen: 16 Berliner Menschen aus „prekären Lebenssituationen“, die Papst Franziskus nach Rom eingeladen hat, um das Ende des Jahres der Barmherzigkeit zu feiern. Dazu zwei Sozialarbeiter und ich als Reporterin. „Fahr ick halt allein nach Rom!“, dröhnt Sven durch den Raum. Vielleicht hat er einfach Flugangst? Die Sicherheitsleute schauen etwas verwundert zu uns.
Meine Mitreisenden sind Menschen, die wohnungslos waren oder sind, die „am Rand der Gesellschaft“ leben, wie man so sagt. Sie sind über Suppenküchen und andere Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe für die Fahrt ausgelost worden. Die Reise wird über die Caritas und Spenden finanziert. Von Sven, der in Wirklichkeit anders heißt, hatte ich vorher in der Zeitung gelesen: Dass er in Grunewald geboren ist, aber als West-„Spion“ in der DDR mehrere Jahre im Gefängnis saß. Dass er eine Familie hatte und ein bürgerliches Leben, das am Alkohol zerbrach. Dass er fünf Jahre auf der Straße lebte. Und Katholik ist. Es ist ihm ernst mit dem Papstbesuch, sagt er mir. „Da will ick hin. Danach kannick sterben, det is mir ejal.“

Schließlich kommen die anderen doch noch. In den Kontrollen ist das Handy einer Helferin verschwunden. Ein Mann ist von Sicherheitsleuten so rüde abgetastet worden, bis er vor Wut und Demütigung zitterte. Erst ein Polizist machte dem ein Ende, nachdem wir unsere besondere Reise erklärt hatten. Als endlich alle im Flugzeug sitzen, denke ich ganz kurz: Wahnsinn. Was ist das eigentlich, so eine Wallfahrt? Schließlich hebt das Flugzeug ab.
Worum geht es bei dieser Reise? Um den Papst? Gott? Uns? Die Einladung des Papstes galt ausdrücklich nicht allein Katholiken. Meine Mitreisenden sind evangelisch, katholisch, muslimisch erzogen, manche sind gläubig, andere nicht. „Pilger“, lateinisch „peregrinus“, bedeutet auf deutsch „Fremder“. Wörtlich übersetzt bedeutet es: „Der übers Feld kam“. Wir aber fliegen. Ist das angemessen für eine Wallfahrt der Armen? Gehören zum wahren Pilgern nicht Verzicht und Entschleunigung? Andererseits: Was soll Verzicht sein für Menschen, die sich normalerweise kaum eine Busfahrkarte leisten können? Manche meiner Mitreisenden sind noch nie geflogen. Sven hat mir erzählt, dass er sich für die Fahrt in der Kleiderklammer neue Sachen geholt hat. Dass er heute zwar eine kleine Wohnung in Hellersdorf hat, aber meist draußen ist. Er hält es allein in der Wohnung nicht aus. „Oh, guck mal, das Meer!“ – „Da unten sind Schafe!“ – „Und wo ist Rom?“ Wir landen.
Unsichtbar - Vom Leben auf der Straße
Donnerstag, 11 Uhr
Rom empfängt uns mit einem Knall. Wir sind gerade aus dem Bus ausgestiegen, da fliegt uns ein Mann vor die Füße. Zwischen zwei parkenden Autos schlägt er lang hin, eine Lache breitet sich um ihn aus. Ein Schockmoment vergeht, bis ihm jemand die Hand reicht. Vorsichtig, der Mann starrt vor Dreck, sein graues Haar ist verfilzt. Er stinkt. Die Lache vor ihm ist Bier, die Flasche liegt zersplittert darin. Ist es Zufall, dass er ausgerechnet uns vor die Füße fällt?
„Freude über den, der eintritt – Frieden für den, der bleibt – Segen für den, der abreist.“ So steht es über der Hofeinfahrt des Klosters, in dem wir drei Tage wohnen werden. Das Haus wurde im 19. Jahrhundert als Asyl für Arme und Kranke eröffnet, gleich um die Ecke der berühmten Papst-Basilika Santa Maria Maggiore. Heute betreiben die Schwestern der Heiligen Elisabetta hier eine Pension. Viele Klöster in Rom machen das so, Pilgern ist ein wichtiger Teil des Tourismus in der Heiligen Stadt.
„Bevor wir die Zimmer beziehen, gehen wir essen“, kündigt der Organisator unserer Reise an. Rana Bose, 30 Jahre alt, ist Theologiestudent im ersten Semester. Er stammt aus Köln, in Berlin hat er in einer Obdachlosen-Wohngemeinschaft der Jesuiten und in der Suppenküche in Pankow gearbeitet – und seine Berufung gefunden. Er will Priester werden. Es ist die erste Wallfahrt, die er selbst organisiert.
Im Restaurant wird die Reisegruppe begeistert empfangen. Pilger sind in Rom gern gesehene Gäste. Und die genießen es, bewirtet zu werden. Vielleicht fällt es nur mir auf, aber: Hier gibt es keine schrägen Blicke mehr wie noch am Berliner Flughafen. Plastiktüten statt Reisegepäck, abgetragene Kleider, rauer Ton – egal. Deutsche sind aus italienischer Sicht ohnehin seltsam, aber vor allem gilt hier: Gast ist Gast.
Beim Nachtisch werden Namenslisten geschrieben. Wer wohnt mit wem auf dem Zimmer? Einzelzimmer gibt es nicht. „Sven, schnarchst du?“
Nach dem Essen erlaubt der Wirt den Pilgern mit verwunderter Geste, die leeren Getränkeflaschen vom Tisch mitzunehmen. Als sie erfahren, dass es in Italien kein Flaschenpfand gibt, sind einige empört. „Solle man einführen, das ist doch unwürdig!“
Donnerstag, 15 Uhr
Die Rom-Reise ist für die meisten die erste Wallfahrt, für manche die erste Reise seit Langem. Wir wissen alle nicht genau, wie man sich als Pilger so gibt. Muss man vor dem Essen beten? Wie viel Tourismus ist okay? Vor der Stadtrundfahrt geraten zwei Mitpilger an senegalesische Straßenverkäufer, die merkwürdige Holz-Kunstwerke zum Aufklappen anbieten. Tschack!, ein Verkäufer lässt das Holzding aufschnappen und ruft: „Give me forty, collega!“ Er tänzelt hinter uns her, „give me thirtyfive!“, er fasst einen Pilger am Ärmel, „thirty, PLEASE!“ Der Pilger wehrt sich lachend: „No, no, NO!“ Aus der Sicht der Senegalesen sind alle Deutschen reich.
Im Bus sitzen wir im offenen Oberdeck des Doppeldeckers und frieren. Der Winter ist auch in Rom kalt, aber oben ist die Sicht besser. Als vor uns die Schönheiten der Stadt vorbeiziehen, Kirchen, Kolosseum, Forum Romanum und Engelsburg, wird es im Bus still. „Wie ein Film“, sagt schließlich jemand. Der Tiber hat tief türkisgrünes Wasser, meine Mitreisenden deuten auf ein ärmliches Lager aus Planen und Zelten am Ufer. Als der Petersdom in Sicht kommt, sagt Sven: „Endlich. Da willick hin.“
Auf dem Rückweg zum Kloster steht an dem Kiosk, an dem vorhin der Betrunkene umfiel, eine junge dunkelhäutige Frau. Sie legt einem Pilger die Hand auf den Arm. „Hello, do you want, I’m from Africa.“ Es ist ein Satz ohne Fragezeichen.
Im Empfang des Klosters verteilt eine polnische Schwester in Ordenstracht die Zimmerschlüssel. Von den Wänden schauen ihr Heilige bei der Arbeit zu, auf dem Schreibtisch steht ein moderner Computer. An der Tür zur Kapelle hängt der Tagesplan der Nonnen. Um 5.30 Uhr beginnen sie mit einer Andacht, letzte Messe ist um 20 Uhr. Abends können sie deswegen nicht mit uns essen.
Zum Abendbrot kaufen die Sozialarbeiter Brot, Wurst, Käse, Obst, Tee im Supermarkt ein. Gegessen wird in der Gemeinschaftsküche. Die Frauen stellen sich schöne Teller zusammen, einige Männer häufen sich Wurst und Brot hoch auf die Teller. Als Sven kommt, ist nichts mehr da. Er schimpft: „Wie inner Suppenküche ist det hier!“ Mit anderen Brot zu teilen, ist ein schöner, ein sehr christlicher Gedanke – solange für alle genug Brot da ist. Oder Geld, um neues zu kaufen, wenn es nicht reicht.
Tischgespräche: Einige Pilger haben im früheren Leben schöne Reisen gemacht, in guten Hotels gewohnt, bis – nun ja. Von Reisen kann man besser erzählen als davon, wie alles anders wurde. Wie es sich anfühlt, wenn man als Invalidenrentner in Suppenküchen essen muss. Wenn man seine Wohnung verliert, weil man die Mieterhöhung nicht bezahlen kann. Wenn man lieber draußen schläft, als sich jemandem anzuvertrauen, dass man es nicht schafft, selbst eine Wohnung zu finden. Was erzählt man, was besser nicht? Small Talk unter Verletzten.
Freitag, 7.30 Uhr
Für heute ist die große Audienz beim Papst geplant. Während wir frühstücken, teilen die Nonnen auch auf der Straße Kaffee und Brote aus – für die Obdachlosen vom Kiosk, afrikanische Straßenverkäufer, jeden, der sich anstellt. An diesem Tag sind es rund 50 Menschen.
Was ist das: arm? „Armut ist nicht unbedingt etwas, das man sieht“, hat einer meiner Mitpilger am Abend gesagt, er trägt gebügelte Hemden und einen akkuraten Kurzhaarschnitt. „Meine Geschichte würden mir viele auf den ersten Blick nicht glauben.“ Er will anonym bleiben. Roderich, der sich wegen seiner Haarmähne auch Weißbart nennt, unterscheidet zwischen Menschen, die freiwillig ohne Wohnung leben, etwa in Wagenburgen, und solchen, die auf der Straße landen, weil sie an der Bürokratie scheitern. Er kennt viele, denen es so geht. „Ihnen kann man nur raten, die Hilfen in Anspruch zu nehmen, die es bei uns ja immerhin gibt.“

Am Vatikan gehe ich mit den Pilgern voraus, die schlecht zu Fuß sind. Sven kann nur in sehr kleinen Schritten gehen, Ryszard benutzt einen Schirm als Stock, er ist Diabetiker. Jurek begleitet ihn. Die beiden arbeiten als Köche in einer Suppenküche. Am Vatikan leihen uns Nonnen gegen Pfand zwei Rollstühle. Ein bisschen peinlich ist es den Männern, aber die Nonnen überzeugen uns: Rollstühle sind besser, als im Angesicht des Papstes umzukippen. Außerdem sitzen wir in der ersten Reihe.
Der Audienzsaal des Vatikans erinnert eher an einen Konferenzsaal als an einen religiösen Ort, selbst wenn hinter der Bühne eine große, moderne Christus-Skulptur hängt. Und schon gar nicht erinnert der Saal an einen Ort, an dem sich Tausende Obdachlose versammeln. Was jetzt passiert, hat es so wohl noch nie gegeben: Durch die Türen schlurfen die ersten Gruppen, manche strubbelig und abgerissen, krank, mit Sack und Pack, andere mit politischen Transparenten. Davor gehen Fernsehkameras in Position – und lila livrierten Saaldiener des Vatikans . Sie mustern das alles mit finsteren Mienen. Offenbar gefällt es nicht jedem, der Armut auf diese Weise ins vielfache Gesicht zu blicken. Aber genau das war es wohl, was Franziskus im Sinn hatte: den Blick auf jene zu lenken, an denen man im Alltag lieber vorbeischaut – nicht, indem man sie anstarrt und ausstellt, sondern indem man sie einlädt und auf die Bühne stellt. Neben mir grinst Sven über die Plakate und Punkfrisuren. „Is’ die Antifa ooch hier?“
Organisiert hat das Treffen in Rom die französische Freiwilligeninitiative Fratello („Bruder“), die sich vor zwei Jahren gründete, als der Papst erstmals 150 Arme empfing. Diesmal kommen 4000. Es dauert drei Stunden, bis alle die Sicherheitskontrollen passiert haben.
Freitag, 11.43 Uhr
Schreien, Kreischen, wie auf ein Zeichen stehen 4000 Menschen von ihren Plätzen auf. Manche recken Selfiesticks, andere steigen auf Stühle – der Papst ist da. „Sit down, please!“, herrschen die Sicherheitsleute die Rollstuhlfahrer an, von denen einige ebenfalls aufgestanden sind. Hinter uns weint eine Frau: „Papa Francisco!“ – „Dreh mich mal um“, bittet ein Mann neben mir, auch er sitzt im Rollstuhl. Heinz, so stellt er sich vor, kommt aus Köln. Ihm stehen die Tränen in den Augen. „Durch eine soziale Geschichte bin ich ein bisschen in den Keller gefallen, und jetzt bin ich hier.“ Er zieht eine silberne Kette mit einem Kreuz aus der Tasche. „Vielleicht ist es verrückt, aber ich hoffe, er wird es segnen.“
Der Papst hält eine emotionale Rede, doch wir verstehen nicht viel. Zwar gibt es italienische Simultanübersetzer, doch Franziskus spricht überraschend in seiner Muttersprache Spanisch. Vielleicht, weil es auch für ihn ein bewegender Moment ist. Seit seiner Wahl 2013 hat er Slums besucht und Favelas, er hat Duschen für die Obdachlosen am Vatikan bauen lassen und Flüchtlingen die Füße gewaschen. Auf allen Reisen nutzt er seine Besuche, um den Blick auf Armut und Ausgrenzung zu lenken. Nun aber ist es umgekehrt: Diesmal sind die Armen zu ihm gekommen.

Arme dürften nicht als Sklaven ausgenutzt werden, ruft Franziskus in den Saal, er gilt als politischer Papst, manche nennen ihn einen Kommunisten, immer wieder prangert er Wirtschaft und Politik an. Neben ihm auf der Bühne sitzen jetzt zwölf Menschen in schäbigen Kleidern, einer mit Tüte, eine alte Dame mit einer Pelzmütze aus dem vorigen Jahrhundert. Einige haben zuvor von sich erzählt, vom Leben auf der Straße, mit der Sucht. Manche waren wütend, manche haben geweint.
Franziskus bittet um Verzeihung für die Momente, in denen Christen und Kirche sich von den Armen abgewandt hätten. Am Schluss sagt er: „Betet für mich!“, was als konkrete Bitte verstanden werden muss. Denn seine Reformen und Forderungen passen längst nicht allen, auch nicht in der römischen Kurie. Als Franziskus aufsteht und die zwölf „Jünger“ segnet, klammert sich ein junger Mann an ihn wie ein Kind. Alle im Saal haben Tränen in den Augen.
Um 12.40 Uhr passiert, was wir alle eigentlich nicht für möglich gehalten haben. Franziskus ist schon von der Bühne geschritten, da kehrt er noch einmal um – und geht direkt auf uns zu. Ordner räumen noch Rucksäcke und Tüten beiseite, schon liegt eine Hand des Papstes auf Svens Kopf, die andere hält Svens schwielige Hände. Der Papst lächelt Sven an. Sven laufen die Tränen. Beim Weitergehen schaut Franziskus einen Moment über uns auf die aufgewühlten Menschen im Saal. Wie jemand, der über die Brandung aufs Meer hinausschaut.
„Bitte, gehen Sie jetzt“, die Saalordner reißen uns zurück in die Wirklichkeit. Jurek schiebt mit rot geweinten Augen Ryszard im Rollstuhl nach draußen, wo Sven in die Sonne zwinkert. „So ein schöner Tag“, sagt er, „jetzt kannick jehn“. – „Du meinst, zurück in die Herberge?“ – „Nee, ins Jenseits.“ Sven ist gut gelaunt. „Und dann hat er uns die Hand aufgelegt, so“, er streicht über meine Wange. Jurek sagt nachdenklich: „Ich habe lange nicht so geweint.“ Wallfahrt ist wohl auch das: Berührung.
Am Ausgang werden Lunchpakete an die Gäste verschenkt. Meine Begleiter geben sie wortlos weiter an die Obdachlosen am Petersplatz. Es sind viele. Romafrauen mit Kindern, verwahrloste Männer, ein junger Mann sitzt mit einem Schild am Boden: „Besser Bettler als Dieb.“ Jurek sagt: „Ich finde es wichtig, dass die Menschen sich der Armen auch mit dem Herzen annehmen und nicht nur Spenden geben, die ihnen nicht wehtun“. Eigentlich hat der Papst etwas Ähnliches gesagt: „Armut wird es immer geben, ein würdeloses Dasein in Fremdbestimmung und Abhängigkeit aber darf nicht sein.“ Wie aber soll man das in der Wirklichkeit umsetzen? Und: Wer? Das katholische Kirchenoberhaupt hat dazu auch etwas gesagt: „Armut ist der Mut des Evangeliums.“
Nachmittags laufen wir zu Fuß durch die Stadt. Kaum eine Stadt kann Reichtum so feiern wie Rom, wo sich Römer, Päpste, Fürsten und Regenten ihre Paläste und Denkmäler bauten. Die Innenstadt ist heute eine einzige Luxus-Shoppingmeile. Andererseits sitzen Bettler und Obdachlose vor allen Kirchen, in vielen Hauseingängen, auf Bürgersteigen. Jeden Sonntag wird in Rom eine komplette Kirche zum Restaurant umgebaut. Dann gibt es dort Essen für Bedürftige. Mut ist auch: Der Armut begegnen, ohne die Betroffenen zu entwürdigen.
Sonnabend, 9 Uhr
Alle „Fratello“-Pilger tragen heute bunte Schals und Rucksäcke. Die Idee: als bunte Punkte sind sie überall sichtbar. Es funktioniert. Im Bus auf dem Weg zur Messe unterhalten sich die Fahrgäste darüber. „Sehen Sie da draußen die Pilger? Das sind die Armen, die der Papst eingeladen hat.“ Wir fahren im Bus zur Messe für die deutschen Pilger. Immer wieder sprechen uns Menschen an. „Ihr seid das Tor zum Himmel“, sagt eine ältere Dame, „ihr seid der Schatz im Herzen des Papstes“. Sie zitiert die Worte des Papstes vom Tag zuvor. Meine Mitreisenden gucken beschämt, als sie die Dame direkt auf uns anwendet. Wir, arm? Wer will schon direkt so genannt werden? Sie schenkt uns ein bezauberndes Lächeln. Ihr fehlen drei Zähne, ihre elegante Kleidung ist abgetragen. Was ist Armut?
Die Chiesa Nova ist eine große Barockkirche aus dem 16. Jahrhundert mit viel Stuck, Gold und Gemälden. Die Pracht steht in Kontrast zu den Pilgern, die sich jetzt in die Kirchenbänke quetschen, am Boden sitzen oder auch rauchend im Kirchenportal. Mitten im Gewühl steht ein großer Mann in rot-weißer Priesterrobe und Nickelbrille: Weihbischof Ansgar Puff ist mit den Kölner Pilgern gekommen, um die deutsche Messe zu halten. Puff ist Jesuit wie der Papst, war vor seiner Berufung Sozialarbeiter und hat sichtlich Freude daran, den Gottesdienst ganz anders zu gestalten, als der katholische Ritus es eigentlich fordert. „Hallo, ich bin Ansgar“, stellt er sich per Mikrofon vor und reicht es an die Pilger weiter.
Es geht noch einmal um Mut. Unter anderem spricht dazu ein Berliner: Christian Herwartz, Gründer der Wohngemeinschaft für Obdachlose in der Kreuzberger Naunynstraße. Herwartz zog in eine bedrohte Wagenburg, ließ sich mit den Bewohnern räumen, organisierte Demos, schrieb ein Buch über seine Arbeit. Er bekommt viel Beifall, Sven nickt anerkennend. Der Sonnabend ist der Tag der deutlichen Worte. Weihbischof Ansgar gibt nach der Messe der Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunz“ ein Interview: „Armut ist im Prinzip Scheiße, da gibt es nichts zu beschönigen.“

Am Nachmittag ziehen die Pilger gemeinsam dahin, wo laut dem Weihbischof Kirche zuallererst stattfinden soll: auf die Straße. Angeführt von Kardinal Philippe Barbarin, der Erzbischof von Lyon ist, und Weihbischof Ansgar ziehen wir um die Pilgerkirche San Paolo fuori le Mura. So groß ist die Kirche, so weit der zartblaue Abendhimmel von Rom, dass die Menschen mit ihren Kerzen nur am unteren Bildrand einen funkelnden Saum bilden. Wallfahrt und Kirche bedeuten auch, in Bildern zu sprechen.
Während im Gottesdienst Kardinal Barbarin die Bitte des Papstes vom Vortag wiederholt: „Gestern hat er uns mindestens zehnmal gesagt, dass er uns braucht!“, brauchen manche Pilger etwas ganz anderes – und finden es nicht. Einige Männer pinkeln deshalb im Kirchhof gegen die Säulen. Das gibt Ärger. „So ist das eben, wenn man Arme einlädt“, kommentiert unser Reiseleiter Rana trocken.
Obdachlose wie jene, die in Rom vor „unserem“ Kloster auf der Straße leben, sind auf dem Massentreffen der Armen nur sehr wenige dabei. Möglich, dass man damit eine Eskalation des Treffen vermeiden wollte – auch aus Sicherheitsgründen müssen sich zum Beispiel alle Teilnehmer ausweisen können, einen Ausweis bekommt man in der Regel ja aber nur mit einer festen Adresse. Andererseits, überlegt Rana, „wäre es ein gutes Zeichen gewesen, solche Menschen mit dazuzuholen und mal etwas zu wagen, was alle für verrückt halten.“
Als wir zum Kloster zurückkehren, grüßen uns die Nicht-Eingeladenen am Kiosk. Wir kennen uns mittlerweile. Sebastiano und Valentino stammen aus Rumänien, sie schlafen am Petersplatz. „Wir sind ungefähr 30 Leute“, sagt Sebastiano. Von der Einladung des Papstes an die Armen haben sie zwar gehört. Aber sie sehen Franziskus kritisch. „Dieser Papst hat viel angekündigt, aber bei uns kommt nichts an. Sicher, er hat Duschen für Obdachlose am Vatikan gebaut, es gibt dort Kleider- und Essensspenden, aber Arbeit und Wohnung bekommen wir nicht.“ Aber wäre eine Welt nicht besser, in der sie selbst mitbestimmen könnten, wie das Geld verteilt wird, statt darum zu betteln? Sie lachen. „Das ist doch nur Propaganda“, sagt Valentino.
Sonntag, 8 Uhr
Am letzten Tag wollen wir früh zur Messe im Petersdom fahren, aber einige haben lange geschlafen. Die Polen haben „grüne Nacht“ gemacht, „wie als Kinder in der letzten Nacht im Ferienlager“. Eine Frau sitzt im Fernsehraum unter dem Kreuz und ringt mit ihrer Wut auf die Zimmergenossen. Hat diese Wut ihr der Teufel geschickt? Oder ist sie zu Recht genervt?
Sven sitzt im Klosterhof, raucht und resümiert. „Ich hab mir überlegt: Der Papst hat mir die Hand gegeben. Die Leute hier, diese Einigkeit, das hätt ich sonst im ganzen Leben nicht erlebt. Scheißegal, wenn’s mal nüscht zu fressen gab. Ich bin zufrieden.“
Sonntag ist in Rom ein besonderer Tag, allein schon wegen der vielen Kirchen und Glocken. Die Sonne scheint. Auf dem Weg zum Bahnhof wünscht uns ein Bettler „buona domenica“. Am Petersdom gibt es Sonderangebote: zwölf Rosenkränze zum Preis von zehn, schließlich ist es das Jahr der Barmherzigkeit. In der Messe hält sich Papst Franziskus streng an den Ritus, der Dom ist voll. Nur in unserer Gruppe herrscht Sorge: Eine Teilnehmerin fehlt. Müssen wir die Polizei rufen? Wie viel Gedanken muss man sich um jemanden machen, den man eigentlich gar nicht kennt? Aber stimmt das nach drei Tagen noch? Dann taucht sie wieder auf. Sie hat im Gedrängel am Dom keine Einlasskarte bekommen.
Zur Rückfahrt gibt uns Rana einen Reisesegen. „Ich glaube, wir kommen alle anders nach Hause, als wir losgefahren sind“, sagt er, „es war eine Reise, wie wir sie alle noch nie gemacht haben.“ Und dann passiert es. Ohne Bedenken sagen alle im Chor: „Amen.“