Anschlag Breitscheidplatz

48 Stunden bis zur schrecklichen Gewissheit

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Jens Anker
Nach Anschlag auf Breitscheidplatz: 48 Stunden bis zur schrecklichen Gewissheit

48 Stunden bis zur schrecklichen Gewissheit

Ofer Eliakin (54) ist der jüngere Bruder eines schwerverletzten israelischen Überlebenden. Sein Bruder Rami und dessen Frau Daliya machten in Berlin Urlaub.

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Der Israeli Ofer Eliakim hat seine Schwägerin bei dem Anschlag verloren, sein Bruder liegt schwer verletzt im Wenckebach-Krankenhaus

„Es ist frustrierend“, sagt Ofer Eliakim und verzieht das Gesicht zu einem verzerrten Lächeln, das großer Verzweiflung entspringt. Jahrelang sei die Familie in Israel mit Anschlägen und Terror konfrontiert gewesen und es sei nichts passiert – aber als sein Bruder Rami zusammen mit seiner Ehefrau Daliya in Berlin auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz einen Glühwein trank, schlug das Schicksal zu. Daliya Eliakim ist eines der zwölf Opfer, das durch den Anschlag getötet wurde. Ofers Bruder Rami wurde schwer verletzt und wird derzeit im Wenckebach-Krankenhaus in Tempelhof behandelt. Er liegt im künstlichen Koma, sein Zustand sei ernst, aber stabil, sagen die behandelnden Ärzte.

Für die Familie Eliakim aus Herzliya bei Tel Aviv begann der Albtraum bereits am Montagabend. „Wir erfuhren von dem Anschlag in Berlin, haben uns aber nicht vorstellen können, dass sie involviert sind“, sagt Ofer. Erst, als er am folgenden Morgen keinen Kontakt zu seinem Bruder und seiner Schwägerin aufnehmen konnte, wurde er nervös. Er setzte sich mit dem Hotel in Verbindung, in dem das Ehepaar untergebracht war, und ließ das Zimmer öffnen. Die Angestellten stellten fest, dass niemand im Zimmer übernachtet hatte.

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Daraufhin flog Ofer sofort nach Berlin. Als er landete, wurde er bereits von Mitarbeitern der israelischen Botschaft empfangen. Sie hatten in der Zwischenzeit herausgefunden, dass Rami schwer verletzt im Krankenhaus lag und brachten seinen Bruder zu ihm. Von Daliya fehlte weiter jede Spur. „Rami hatte bereits zwei Operationen hinter sich“, sagt sein Bruder. „Ich sah ihn, er sah fürchterlich aus.“ Aber die Ärzte versicherten ihm, dass er nicht in Lebensgefahr schwebe. Der 63-jährige Rami Eliakim hat schwere Verletzungen an den Beinen und der Hüfte erlitten. Inzwischen waren auch die beiden Söhne des Ehepaares in Berlin eingetroffen. Während sie beim Vater blieben, suchte Ofer nach einem Lebenszeichen der Schwägerin.

Am Mittwochnachmittag erhielt die Familie dann die Nachricht, dass Daliya nicht unter den Verletzten in den Krankenhäusern ist. In der Nacht erfolgte die offizielle Bestätigung an die israelische Botschaft, dass sie als eines der zwölf Todesopfer identifiziert wurde. „Wir sind sofort losgefahren, um die Familie zu treffen und haben ihnen die traurige Nachricht überbracht“, heißt es in einer Mitteilung der israelischen Konsulin Liora Givon. „Sie waren natürlich sehr, sehr traurig, da sie die Hoffnung hatten, dass sie sich unter den noch nicht identifizierten Verletzten befindet.“

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Ofer bezeichnet seine 60-jährige Schwägerin als einen lebensfrohen Menschen. „Sie kam nie zur Ruhe, plante ständig neue Reisen, sie mochte die Atmosphäre auf Festen wie dem Weihnachtsmarkt“, sagt Ofer. „Auf dem Oktoberfest in München waren sie auch schon.“ Das Ehepaar habe ein glückliches Leben gelebt, ihr jährliches Fest zum Unabhängigkeitstag sei legendär.

„Sie waren zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort“, sagt Ofer Eliakim. „Sie haben zwei großartige Söhne. Jetzt geht es darum, die Kinder aufzufangen.“ Noch in der Nacht zu Freitag hat Ofer Eliakim zusammen mit einem Sohn den Sarg in die Heimat überführt. Die Beerdigung soll am Freitag stattfinden.

Der andere Sohn bleibt in Berlin bei seinem Vater. Zwei weitere Operationen stehen in den kommenden Tagen an. „Prinzipiell wird er wieder laufen können“, sagt der ärztliche Direktor des Wenckebach-Krankenhauses, Peter Albers. „Aber es wird nicht wieder so sein wie davor. Nach so einer Traumatisierung bleibt immer etwas zurück.“ Das Krankenhaus war auf die Behandlung von Anschlagsopfern nach Albers Angaben gut vorbereitet. Seit zehn Jahren werde das Personal geschult, „leider ist der Fall jetzt eingetreten“, sagt Albers. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlages am Montag seien 200 Mitarbeiter aus der Freizeit im Dienst erschienen.

„Das Ärzteteam ist super, wir fühlen uns willkommen“

„Wir sind froh, helfen zu können in dieser schweren Situation“, sagt der Geschäftsführende Direktor des Wenckebach-Krankenhauses, Rolf Syden. Zwei der verletzten Anschlagsopfer werden im Wenckebach-Krankenhaus behandelt. Die Angehörigen könnten sich darauf verlassen, dass alles medizinisch-mögliche unternommen werde, die Versorgung sicherzustellen. Daran zweifelt Ofer Eliakim nicht. Das Ärzteteam sei super, sagt er. Die Familie fühle sich jederzeit willkommen, alle Fragen würden geduldig und ausführlich beantwortet.

In Berliner Krankenhäusern werden nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt noch 26 Patienten stationär behandelt, darunter zwölf mit schwersten Verletzungen. Das teilte die Senatsgesundheitsverwaltung am Donnerstag mit. Die Zahl der Todesopfer ist nicht gestiegen. Allerdings befänden sich noch Patienten in kritischer Verfassung, so die Senatsgesundheitsverwaltung.

Bei einer erneuten Abfrage aller Rettungsstellen seien weitere sieben Leichtverletzte erfasst worden, die nach dem Anschlag von sich aus eine Notaufnahme aufgesucht hätten. Bis auf einen Patienten seien alle wieder entlassen. Damit erhöht sich die Gesamtzahl der in 22 Krankenhäusern versorgten Verletzten auf 56. Derzeit sind noch 14 mittelschwer oder leicht Verletzte in stationärer Behandlung, 30 Patienten konnten bereits entlassen werden.