Serie Berlin 2021

Berlin braucht ein alternatives Silicon Valley

| Lesedauer: 10 Minuten
Claudia Neusüß
Frau mit Laptop Getty Images/annedde 508401059

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Foto: Images/annedde; Montage: BM

Politikberaterin und Gender-Expertin Claudia Neusüß wünscht sich mehr Gründerinnen in der IT. Der 13. Teil unserer Serie.

Serie Teil 13 In Berlin laufen Koalitionsverhandlungen. Die Stadt steht vor großen Herausforderungen. Was muss sich ändern? Experten stellen in der Berliner Morgenpost ihre Konzepte für Berlin 2021 vor: von der Verwaltung über die innere Sicherheit, die Wirtschaft bis zur Bildung. Diesmal: Politikberaterin und Gender-Expertin Claudia Neusüß.

Wenn ich eine Vision für Berlin entwickeln sollte, dann ist es die Idee einer offenen, einer internationalen, an Vielfalt und Gleichstellung orientierten, einer solidarischen Stadt.

Wie wäre es, wenn wir anfangen eine Wirtschaft zu denken, die sich weit stärker an menschlicher Bedürfnisbefriedigung und Nachhaltigkeit und weniger an Profitmaximierung orientiert? Soziales, nachhaltiges und solidarisches Wirtschaften, welches an gesellschaftlichen Schieflagen ansetzt und neue Ideen entwickelt – dabei Vielfalt als Potenzial wahrnimmt und Gleichstellung fördert?

Berlin 2021 - alle Teile der Morgenpost-Serie

Dazu gehört auch ein neuer „Gründer“-Geist. Positiv ist die hohe Zahl der Start-ups und der gestiegene Anteil an Gründerinnen in der Stadt, aktuell rund 37 Prozent. Gleichzeitig sind in bestimmten Bereichen der Start-up-Szene – wie dem IT-Bereich – überwiegend Männer unterwegs. Hier benötigen wir einen Kulturwandel, der es attraktiv für Frauen macht, sich in diesem Feld zu engagieren. Es kann nicht sein, dass der Bereich der Digitalisierung, der alle Geschlechter betrifft, vor allem von Männern bearbeitet wird.

Die Politik ist gefragt, Gründerinnen zu unterstützen

Vielleicht brauchen wir internationale Verstärkung – vielleicht so etwas wie ein alternatives, feministisches Silicon Valley. Hier ist auch Politik gefragt, einen Rahmen zu schaffen, um speziell Gründerinnen im Technologiebereich zu unterstützen bzw. Aktivitäten in dem Feld anzuregen.

Die Erfahrungen mit der Berliner WeiberWirtschaft zeigen, dass bei vielen Gründerinnen der Wunsch, gestalten und selbstbestimmen zu können, vorrangiger ist als das Geldmotiv. Eine ganze Reihe beschäftigt sich mit Fragen sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit, etwa in der Mode, dem Handwerk, der Beratung oder im Bereich der Mobilität. Das ist ein ausbaufähiges Potenzial für zukunftsfähiges Wirtschaften.

Einkommensdifferenzen markieren aber eine zählebige Schieflage zwischen den Geschlechtern. Unternehmensgründerinnen verfügen über weniger finanzielle Ressourcen und haben schlechteren Zugang zu Risikokapital. Bei den Angestellten verdienen Frauen durchschnittlich etwa 21 Prozent weniger als Männer, bei den Selbstständigen und Unternehmerinnen beträgt der Unterschied sogar durchschnittlich 43 Prozent.

Soziale Ungleichheit wirkt an manchen Stellen wie eingefroren

Das unterschiedliche Gründungsverhalten hat verschiedene Ursachen, birgt Nachteile, aber auch Potenziale. Es hat mit alten Rollenbildern, mit geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, unterschiedlichen Voraussetzungen und strukturellen Hindernissen zu tun. Es kann an manchen Stellen auch als ein Ansatz gesehen werden, neue Normen zu finden und zu leben, die umsichtiger mit den Ressourcen unseres Planeten und den reproduktiven Bedürfnissen der Menschen umgehen.

Wir leben in einer Zeit, in der sich die Dinge rasant verändern. Gleichzeitig registrieren wir eine soziale Ungleichheit, die an manchen Stellen wie eingefroren wirkt. Die Digitalisierung von Erwerbsarbeit und Alltag wird große Veränderungen bringen, bietet neue Chancen und birgt neue Risiken. Wissensarbeiterinnen könnten profitieren und Angestellte im Handel, in dem viele Frauen beschäftigt sind, in Zukunft ihren Arbeitsplatz verlieren. In vielen Bereichen wird sich die Erwerbsarbeit selbst stark verändern und auch die Anforderungen an die Beschäftigten. Der Zugang zu Bildung und die Möglichkeit, sich kontinuierlich weiterzubilden, markiert einen Trend. Politik muss hier sehr vorausschauend agieren.

Eine wichtige Frage lautet dabei, wer Zugang zu Bildung hat und wer ausgeschlossen ist, aber auch, wie das Bildungskapital in Wert gesetzt werden kann. Zurzeit studieren ebenso viele Frauen an den Universitäten wie Männer. Trotzdem sehen wir sie noch nicht entsprechend ihrer Anzahl in allen Bereichen und Hierarchien von Wirtschaft und Gesellschaft. An dieser Stelle ist im Zugang zu Bildung aus Geschlechterperspektive einiges geschafft und doch besteht noch viel Luft nach oben.

Politik ist ein mühsames Geschäft des Aushandelns

In einer neuen politischen Konstellation gibt es die Notwendigkeit, Gemeinsamkeiten und Kompromisse zu finden, aber auch die Möglichkeit, gemeinsam Dinge neu zu denken. Auch wenn Politik immer ein mühsames Geschäft des Aushandelns ist. Die Parteien, die gegenwärtig über eine gemeinsame Koalition verhandeln, haben beim Thema Emanzipation, Gleichberechtigung und Gender eigene Traditionsstrecken. Allen gemeinsam ist ein Gespür für soziale Ungleichheit. Das ist ein großes Potenzial, um neue und stärkere Akzente zu setzen.

Die Politik steht in der Verantwortung, dazu beizutragen, Chancengleichheit zu schaffen, Rechte zu stärken und Diskriminierung abzubauen. Dazu gehört, dass die Dienstleistungen in der Verwaltung funktionieren und diejenigen erreichen, die sie am meisten brauchen. Dazu gehört auch, dass ausreichend Mitarbeitende in den Verwaltungen vorhanden sind, die motiviert sind, und in die investiert wird, um nötige Kompetenzen zu entwickeln.

Wenn staatliche Angebote diejenigen besonders schlecht erreichen, die sie besonders brauchen, ist das ein Unding. Da braucht es andere Strukturen, die Leistungen bündeln und näher an die Menschen herangehen. Wenn diejenigen, die weit entfernt von Teilhabe sind, grundsätzlich keine Perspektive jenseits von sozialstaatlichen Angeboten sehen, ist dies ein Armutszeugnis.

Die Verwaltung muss auf die Erfordernisse der Menschen eingehen

Verwaltung muss eine inklusive Verwaltung sein. Das bedeutet, sie muss in der Lage sein zu realisieren, dass Menschen unterschiedliche Sprachen sprechen, unterschiedliche Anliegen, unterschiedliche Mobilitäts- und unterschiedliche Verständnismöglichkeiten haben. Wir brauchen mehr Kompetenzentwicklung, mehr Transparenz und mehr Serviceorientierung in der Verwaltung.

Im politischen Tagesgeschäft braucht es eine in den Rechten gestärkte Antidiskriminierungspolitik, eine geschlechtssensible Wirtschaftsförderung und Finanzpolitik, ein entschiedenes Vorgehen gegen Gewalt, eine strukturelle Förderung und Aufwertung von Pflege und Erziehung, an der sich alle Geschlechter beteiligen.

Politik profitiert von einem differenzierten Blick auf die jeweilige Zielgruppe und es macht sie besser und Demokratie lebendiger, die jeweiligen Zielgruppen intensiv einzubeziehen und zu beteiligen. Wie genau sehen die verschiedenen Lebenslagen der Menschen aus, wie lauten die Anliegen? Wie genau gestaltet sich die soziale Situation von Alleinerziehenden, Jugendlichen, Unternehmerinnen, Mini-Jobberinnen, Obdachlosen, bildungsfernen Familien oder zugewanderten bzw. geflüchteten Menschen? Was können sie gut, was können sie selbst und was brauchen sie, um am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben teilnehmen zu können?

Das Thema Geschlecht betritt alle Ressorts

Gleichberechtigung ist ein staatliches Ziel im Verfassungsrang. Geschlecht eine Querschnittsaufgabe, die alle politischen Ressorts betrifft. Inklusion ein Menschenrecht. Die Herausforderung für eine inklusive, an Vielfalt, Gleichstellung und an Entrepreneurship orientierte Landespolitik bedeutet, alle Aktivitäten und Maßnahmen daraufhin zu durchleuchten, inwieweit sie geeignet sind Hierarchien zwischen den Geschlechtern abzubauen, Teilhabe fördern, soziale Ungleichheit abbauen, Rahmenbedingungen schaffen, Potenziale heben.

Darin weiterzukommen, bedeutet einen erheblichen Kulturwandel zu forcieren. Darin liegt eine große Chance und eine ordentliche Herausforderung für diese Koalition und für eine offene und solidarische Stadt! (aufgezeichnet von Jens Anker)

Zur Person: Claudia Neusüß

Beraterin Claudia Neusüß ist geschäftsführende Gesellschafterin der Beratungsagentur „compassorange“ mit den Schwerpunkten Innovation, Gender und Diversity.

Weiberwirtschaft Sie ist Mitgründerin der Frauengenossenschaft „WeiberWirtschaft, die seit mehr als 20 Jahren ein Gründerinnenzentrum in Mitte betreibt.

Autorin Die Politologin ist Autorin zahlreicher Publikationen, unter anderem zur EU-Erweiterung und alternativer Ökonomie.

Die Praktiker

Der Schwulenberater: Mehr Unterstützung im Alter und in der Pflege

Marcel de Groot von der Schwulenberatung Berlin sieht vor allem weiter Nachholbedarf in der Akzeptanz von homosexuellen Bedürfnissen in der Gesellschaft. So sei der Senat entgegen seines Versprechens bislang weder im Landesseniorenausschuss noch im Landespflegeplan auf gleichgeschlechtliche Bedürfnisse eingegangen. „Wenn Schwule in die Pflege kommen oder in ein Altersheim, sollte das Personal besser mit den Bedürfnissen vertraut sein“, fordert de Groot. Besonders groß sei derzeit der Mangel an psychologischer Hilfe in der Flüchtlingsunterkunft für Homosexuelle. „Die Menschen sind von Krieg und Flucht traumatisiert, wurden aber oft auch wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt.“

Die Queer-Aktivistin: Beratungsleistungen endlich dauerhaft finanzieren

Für die Familientherapeutin und Queer-Aktivistin Mari Günther mangelt es im Gesundheitswesen an einer Sensibilisierung für die Probleme von transsexuellen Menschen. „Der Senat sollte Beratungsleistungen für Transen endlich auf sichere Füße stellen“, sagt Günther. Bislang seien entsprechende Einrichtungen auf den guten Willen der handelnden Politiker angewiesen, derzeit erhalten sie Geld allein aus den Lottomitteln. Aber gerade in Berlin sei der Beratungsbedarf riesig. „Wir wollen, dass die Beratungen dauerhaft vom Land finanziert werden“, fordert Günther. „Dafür ist von der bisherigen Landesregierung kein sichtbares Wollen zu erkennen“, sagt die Queer-Aktivistin aus Friedrichshain-Kreuzberg.

Die Frauenrechtlerin: Prävention und Bildung für mehr Geschlechtergerechtigkeit

Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin der Frauenrechtsorganisation von Terre de Femmes sieht beim Thema Gleichberechtigung dringenden Handlungsbedarf. Sie fordert vom neuen Senat, verstärkt in Prävention und Bildung zu investieren, um Chancengleichheit für Mädchen und Frauen zu schaffen. „Wir brauchen für geflüchtete Mädchen und Frauen mehr Sprachkurse mit Kinderbetreuung, um ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe in Deutschland zu ermöglichen und bessere Voraussetzungen für den Arbeitsmarkt zu schaffen“, sagt die Frauenrechtlerin von Terre de Femmes. Investieren müsse der Senat auch in Projekte an Schulen, die den Schülerinnen und Schülern einen respektvollen Umgang zwischen den Geschlechtern vermitteln.

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