Schulpsychologe Klaus Seifried geht in Ruhestand. Seine Beobachtung: Immer mehr Berliner Eltern haben große Probleme bei der Erziehung.

Das Büro von Klaus Seifried befindet sich in einem Nebengebäude der Teltow-Grundschule in Schöneberg. Es ist nicht besonders groß: Einen Schreibtisch gibt es dort, an einer Wand ein Bücherregal, gegenüberseine Sitzecke, vor dem Fenster eine ausladende Palme. Auf dem Sofa sitzen ein Kamel und ein Biber aus Plüsch. „Zum Kuscheln oder dran festhalten“, sagt Seifried. Der 65-Jährige, ein bekannter Berliner Schulpsychologe, wird zum Ende des Schuljahres pensioniert. Vor wenigen Tagen war seine Abschiedsfeier. In seinem Büro haben viele Kinder und Jugendliche gesessen und mit ihm über ihre Probleme gesprochen.

Nun ist Klaus Seifried im Ruhestand. Was aber nicht heißt, dass er nichts mehr zu sagen hat. Was wird Schulpsychologen in den kommenden Jahren beschäftigen, wo werden sie gefragt sein? Die größte Herausforderung bestehe darin, dass zunehmend mehr Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder Schwierigkeiten haben, sagt Seifried. Immer mehr Kinder würden ohne klare Regeln aufwachsen. Bei anderen Kindern und Jugendlichen wiederum besteht ein hoher Erwartungsdruck der Eltern. „Sie sollen Medizin oder Psychologie studieren und brauchen dafür ein 1,0-Abitur.“

Vielen Müttern und Vätern fehlt am Abend die Kraft

Die Ursachen dafür, dass Eltern bei der Erziehung versagen, seien vielfältig, so der Psychologe. Vielen fehle ganz einfach die Kraft, sie müssten von morgens bis abends arbeiten, um das nötige Geld zu verdienen. Andere seien erfolgreich, aber ständig unterwegs, würden keine Zeit für die Kinder haben und sie mit Geld abspeisen. „Viele Eltern trauen sich auch nicht mehr, mal Nein zu sagen und den Kindern Grenzen zu setzen.“ Gerade Alleinerziehende seien oft unsicher, weil sie niemanden hätten, mit dem sie über die Erziehung sprechen könnten.

Seifried nennt ein Beispiel: Jens ist zwölf Jahre alt und besucht eine 6. Klasse. In der Schule ist er müde und unkonzentriert, Hausaufgaben macht er kaum noch, und in letzter Zeit beginnt er zu schwänzen. Sein Zeugnis für den Übergang zur Oberschule wird schlecht. Im Beratungsgespräch wird deutlich, dass er gerne am Computer spielt, am liebsten „Tomb Raider“ oder „Counter Strike“, Spiele, die eigentlich erst ab 18 Jahren freigegeben sind. Seine Eltern wissen nicht, welche Spiele Jens spielt. Er verschwindet in seinem Zimmer und spielt stundenlang – oft auch nachts. Die Eltern haben mehrfach versucht, abends den Computer auszuschalten. Doch dann tobt Jens, und es gibt einen Riesen Streit. Deshalb lassen sie ihn lieber gewähren.

Ein anderes Problem sei, dass mehr und mehr Familien in Armut leben müssten. In Berlin seien bereits mehr als 20 Prozent der Kinder davon betroffen. „Besonders alleinerziehende Mütter (und Väter) sind auf Transferleistungen angewiesen“, sagt Seifried. Häufig seien diese Familien nicht nur arm, sondern auch bildungsfern. „Oder die Eltern arbeiten in Niedriglohnjobs und im Schichtdienst. Sie können ihre Kinder nur wenig in ihrem Schulerfolg unterstützen, und die Schule kann das nur teilweise ausgleichen. Schulversagen, schlechte oder keine Schulabschlüsse sind die Folge.“ Auch psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen seien in armen Familien doppelt so häufig anzutreffen wie in gut situierten Familien.

Cybermobbing hat stark zugenommen

Zu Schwierigkeiten komme es häufig auch, wenn Eltern sich trennen, sagt Seifried. In Berlin seien davon jährlich 100.000 Kinder betroffen. Viele Eltern würden sich dann streiten und an den Kindern zerren. „Für die Kinder ist das eine große emotionale Belastung“, sagt Seifried. „Sie lieben beide Elternteile und wollen, dass diese zusammenbleiben.“ Viele würden sehr darunter leiden und in der Schule mit Lernschwäche oder Verhaltensauffälligkeiten reagieren. Die Eltern könnten dem oft wenig entgegensetzen.

„Schule muss da mehr und mehr kompensieren. Lehrkräfte und Erzieherinnen müssten versuchen, den Kindern und Jugendlichen künftig noch stärkeren Halt zu geben“, so der Psychologe. Das gelinge aber nicht immer. Aufgabe der Schulpsychologen sei es, die Pädagogen dabei zu unterstützen.

Ein zunehmendes Problem ist laut Seifried der Umgang der Kinder und Jugendlichen mit den neuen Medien. „Mobbing gab es schon immer. Aber die Methoden haben sich verändert. Cybermobbing hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen.“ Über WhatsApp oder auf Facebook würden Schüler sich gegenseitig fertigmachen. So würden etwa Jungs ihre Freundin in Situationen fotografieren, die sehr intim seien, und diese Fotos ins Netz stellen, wenn das betreffende Mädchen die Freundschaft nicht mehr wolle. Oft mit einem bösen Kommentar. Das sei dann für alle sichtbar und könne auch nicht so einfach wieder gelöscht werden. Andere werden beleidigt und beschimpft.

Hinzu komme, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich in eine mediale Welt zurückziehen, um sich aus der Wirklichkeit weg zu träumen, zunimmt. Jungs würden häufig Gewalt- und Kriegsspiele spielen, Mädchen soziale Spiele bevorzugen, die es ihnen ermöglichen, eine andere Identität anzunehmen. Die Folgen seien Bewegungsmangel, wenig Kontakte zu Gleichaltrigen. Im Unterricht seien die Kinder oft unkonzentriert und abgelenkt. „Viele Eltern stehen diesem Phänomen hilflos gegenüber“, sagt Seifried. Immer öfter würden deshalb Schulpsychologen hinzugezogen.

Die Schule der Zukunft ist für ihn die Ganztagsschule

Seifried will die neuen Medien aber nicht generell verteufeln. Das Internet sei längst ein wichtiges Hilfsmittel bei der Recherche für Hausaufgaben und der Vorbereitung von Vorträgen und Präsentationen, sagt der Schulpsychologe. Wichtig sei, dass Eltern die Nutzung regulieren und die Kraft haben, Grenzen zu setzen. „Zum Beispiel auch nachts kein Chatten mit dem Handy.“ Solche Regeln einzuführen und durchzusetzen, gelinge vielen aber leider nicht. Elternberatungen zu Fragen wie Taschengeld, Schlafenszeiten, Handynutzung seien nicht zuletzt deshalb dringend nötig, sagt Seifried. „Psychologen können diese Beratungen durchführen und Elternkurse anbieten.“

Klaus Seifried wird zwar in Pension gehen, seine Erfahrungen aber will er dennoch weitergeben. „Ich werde weiterhin Vorträge halten, Fortbildungen anbieten oder Schulleiter coachen, wenn der Bedarf dafür besteht“, sagt er. Die Schule der Zukunft ist für Klaus Seifried, der zu Beginn seiner beruflichen Karriere zehn Jahre lang als Lehrer tätig war, die Ganztagsschule. Die müsse den Kindern aber deutlich mehr als Unterricht bieten und es ihnen ermöglichen, ihre Interessen, Stärken und Hobbys zu entwickeln, sagt der Experte. Die Schulen brauchen dafür neben den Lehrern und Erzieherinnen auch Theaterpädagogen, Musiker, Sozialarbeiter, Sprach-und Ergotherapeuten und Sporttrainer sowie Schulpsychologen.