Wahlen in Gefahr, Chaos in Bürgerämtern, schleppender Schulbau: Unklare Strukturen bremsen Berlin aus. Eine Reform ist nicht in Sicht.
Berlins Regierungspolitiker zeigen sich in diesen Tagen rat- und hilflos. Innensenator Frank Henkel (CDU) stellt fest, man sei nicht in der Lage, die Situation in den Bürgerämtern zu verbessern. Der Senat sei gegenüber den Bezirken nicht weisungsbefugt.
Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) erklärt, man könne die marode und zersplitterte Computer-Infrastruktur in den Behörden, die nun die Wahlen gefährde, nicht auf Vordermann bringen. Es sei denn, alle zwölf Bezirke einigten sich. Verkehrsstaatssekretär Christian Gaebler (SPD) schildert fast verzweifelt, wie die Bezirke die politisch gewünschten Radspuren eben nicht auf die Straßen malen.
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Gleichzeitig berichten Bezirksbürgermeister von anmaßenden Landesvertretern, die auf völlig ungeeigneten Grundstücken Flüchtlingscontainer aufbauen wollen. Stadträte erleben, wie sie monatelang auf ein Okay des Hauptausschusses zu 10.000 Euro Mietkosten für Räume für zusätzliche Mitarbeiter warten.
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Manche vergleichen Berlin schon mit „failed states“
Kein Zweifel: Berlin hat ein massives Problem mit seiner zweistufigen Verwaltung. Aber es mangelt an politischem Willen, das Verhältnis von Landes- und Bezirksebene grundsätzlich auszutarieren und die Zuständigkeiten klar zu regeln. Alle Parteien beschränken sich darauf, „starke Bezirke“ zu fordern. Die CDU ergänzt diesen Wunsch mit der Forderung nach einer „ständigen Aufgabenkommission“, die prüfen soll, wer was machen soll.
Der Grünen-Abgeordnete Jochen Esser, seit 17 Jahren im Landesparlament, vergleicht Berlin mit „failed states“. Auch in Afghanistan habe die Regierung nicht die Macht, sich gegen Stammesfürsten durchzusetzen. „Wenn wir das Verwaltungsniveau der süddeutschen Länder erreichen wollen, müssen wir dringend an dieses Thema ran“, sagt der Finanzexperte.
Politisch in Haftung genommen werden Bezirkspolitiker nur selten
Streit und ein Hin und Her der Verantwortlichkeiten gibt es schon lange, nicht erst, seit 2001 im Zuge der Bezirksreform aus 23 zwölf Bezirke geformt wurden. Die Kommunalpolitiker begreifen sich als Bürgermeister von Großstädten mit 300.000 Einwohnern. Aber laut Verfassung stehen sie nur Einheiten ohne eigene Rechtspersönlichkeit in der Einheitsgemeinde Berlin vor. Sie sind für vieles in der Umsetzung zuständig, das Geld dafür muss ihnen aber die Landesebene zuweisen. Politisch in Haftung genommen werden Bezirkspolitiker nur selten.
Die Wahlergebnisse für die Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) weichen nur minimal ab vom Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl im Bezirk. Nur Prominente wie der frühere Neuköllner Rathauschef Heinz Buschkowsky (SPD) und mit Abstrichen die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg schnitten zuletzt lokal deutlich besser ab.
Um die Malaise aus endlosen Abstimmungen, Behinderung und Desorganisation zu bekämpfen, versucht die Senatsebene, Bypässe um die blockierten Kommunikations- und Entscheidungswege zwischen ihren Ressorts und Bezirksrathäusern zu legen. Die Senatssprecherin verweist darauf, dass man im Schulbau auch deshalb auf Modulare Containerbauten setze, weil die Bezirke daran nicht beteiligt seien und es so schneller gehe. Verkehrssenator Andreas Geisel (SPD), einst selbst Bezirksbürgermeister, bastelt an einem Landesbetrieb für Fahrradinfrastruktur, der Radwege schneller anlegt. In der Flüchtlingsunterbringung regierte der Senat mit Notstandsmaßnahmen und requirierte Turnhallen oft gegen den Willen der Bezirke.
Zwischen den Ebenen regiert das Misstrauen
Die CDU kritisiert die „zentralistischen Tendenzen der Berliner SPD“, die den Entscheidungsspielraum der Bezirke einengten wie nie. Tatsächlich regiert das Misstrauen: So will Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Erhebungen der Bezirke zum Sanierungsbedarf der Schulen nicht einfach akzeptieren, sondern nachkontrollieren lassen.
Einen radikalen Blick auf die Dinge hat der SPD-Bildungsexperte Lars Oberg. Er habe echte Schwierigkeiten, Eltern zu erklären, warum denn an ihrer Schule noch nicht saniert würde. Die zweistufige Behördenstruktur erzeuge und verschärfe das „Verantwortungsproblem“ in der Stadt, sagt Oberg: „Man nimmt die eigene Verantwortung nicht wahr, sondern schiebt sie als Skandal jemand anderem zu.“
In fast jeder Fraktionssitzung werde über das Unvermögen der Verwaltung und das Nicht-Lösen von Problemen geklagt, berichtet der Sozialdemokrat. Darum plädiert Oberg für eine völlig neue Struktur. Entweder man macht die Bezirke zu echten Kommunen, wie das etwa in Brüssel sei, mit großen Nachteilen für das Funktionieren der Gesamtstadt. Oder man müsse die „Eigenständigkeitsfiktion“ der Bezirke beenden. Um wirklich bürgernah zu sein, seien sie ohnehin zu groß. An ihre Stelle sollten, wie in anderen Großstädten auch, Ortsräte für die Stadtteile treten, mit einem gewählten Beirat und kleiner Verwaltung. Ausweisvergabe oder Sozialleistungen müssten landesweit geregelt und in den Kiezen von dezentralen Außenstellen gewährleistet werden.
Parteien sind über die Bezirksebene organisiert
Oberg weiß aber auch, warum das Thema nicht angefasst wird, und im vertraulichen Gespräch bestätigen viele andere Politiker den Befund. Die Berliner Parteien sind über die Bezirksebene organisiert. SPD und CDU nominieren Kandidaten für das Abgeordnetenhaus über Bezirkslisten. Es wäre für die Parteien politischer Selbstmord, diese Struktur in Frage zu stellen. Vielfach steht die Loyalität zum Bezirk über der zur Gesamtstadt. Wenn der Vorsteher der Neuköllner BVV Zuwanderer einbürgert, erklärt er ihnen, dass ja nun bald Wahlen seien in Neukölln – die viel wichtigere landesweite Abstimmung über das Landesparlament wird nur am Rande erwähnt.
In der Analyse der Berliner Zustände ist sich die Tempelhof-Schöneberger Sozialstadträtin Sibyll Klotz einig mit SPD-Mann Oberg. Sie hält aber weniger die Strukturen als die Kultur für den Kern des Problems. „Man braucht vernünftige Regeln, Ressourcen und gutes Personal“, sagt Klotz, die als langjährige Grünen-Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus auch die Landesebene gut kennt. Berlin habe seine Behörden 15 Jahre „heruntergewirtschaftet“, sagt Klotz: „Gespart haben sie vor zehn Jahren, jetzt quietscht es.“
Berlins Behörden arbeiten noch wie im 19. Jahrhundert
Das Problem sei vor allem die mittlere Führungsebene in den Ämtern. In den Behörden werde noch gearbeitet „wie im späten 19. Jahrhundert“. Dass IT-Projekte oft nicht klappten, liege auch am mangelnden Personal: „Es gibt zu wenige Leute, die komplexe Vorgänge auslösen und begleiten können“, stellt die scheidende Stadträtin fest.
Doch der Senat habe es fünf Jahre lang nicht geschafft, die elektronische Akte einzuführen. Man habe als Bezirk betteln müssen, dass das Sozialamt mit 200 Mitarbeitern überhaupt bei dem nun angeschobenen Modellprojekt mitmachen darf. Nur den Bezirken die Schuld für das Chaos zuzuschieben greife zu kurz, findet Klotz: „Das ist eine beidseitige Veranstaltung.“
Schon mal reden die Verwaltungen auch nicht miteinander
So sieht das auch Lichtenbergs Gesundheitsstadträtin Sandra Obermeyer (parteilos, für die Linke). Seit der Bezirksreform ist ihr Bezirk zuständig für alle TBC-Untersuchungen in Berlin. Sie berichtet von monatelangen Debatten darüber, wie das Tuberkulose-Screening in die Reihenuntersuchung aller Flüchtlinge einzubinden sei. „Erschüttert“ sei sie, wie schlecht die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ihr Landesamt steuere. Oft redeten auch Senatsverwaltungen nicht miteinander, beschreibt die Stadträtin ihre Erfahrungen. Dort säßen viele, die von der bezirklichen Wirklichkeit „keine Ahnung“ hätten. Ihr Fazit ist ernüchternd: „Die Stadt funktioniert in wichtigen Teilen nicht.“