Wenn man auf einer Mauer steht, einen Meter über dem Boden, und auf eine gegenüberliegende Mauer springen soll, braucht man Mut. Da muss man sich kurz zusammenreißen. Tragen einen die Beine? Schafft man überhaupt den riesigen Satz auf die andere Seite? Was ist, wenn ich abrutsche? Im Alter verliert man den kindlichen Leichtsinn und sämtliche Ängste wachsen. Wer sich Videos anschaut, in denen Menschen Parkour machen, auf den wirkt so ein Sprung von Mauer zu Mauer wie ein lächerlicher Baustein zwischen waghalsigen Bewegungen. Da wird von Dach zu Dach gehopst, auf Stangen in 100 Meter Höhe balanciert oder wie Spider-Man die Wand hochgekraxelt. Eine beeindruckende Körperbeherrschung.
Auf den Spielplätzen in Mitte, auf den Flächen vor dem Velodrom oder am Potsdamer Platz gibt es zwar nicht unbedingt diese Höhen, aber da finden die Traceure, wie sich die Parkourläufer nennen, anderes. Denn jede Mauer, jedes Gelände, Treppen, Streben, Bänke, alles kann eine Herausforderung sein. Ihr Revier, das ist die Stadt. Und ihr Werkzeug der eigene Körper. Zurück zum Ursprung.
Jugendliche in den Banlieus von Paris erfanden die Sportart aus Langeweile
Ben Scheffler, einer der Gründer von „ParkourONE“ in Berlin, entdeckte den Trendsport, der eigentlich keine klassische Sportart ist, 2005. Da war dieses Video von französischen Teenagern, das er im Internet entdeckte, die in Vorstädten südlich von Paris Parkour machten. Aus Langeweile und Alternativlosigkeit begannen diese Franzosen mit Mutproben und stellten sich vermeintlich unlösbaren körperlichen Aufgaben in den Banlieues der Stadt. Irgendwann Mitte der 90er-Jahre mussten sie den Medien sagen, was sie da eigentlich „Verrücktes“ machen würden – es verbalisieren.
Anfangs hieß es noch „les arts du déplacement“, die Kunst der Verschiebung. Heute nennt man es vor allem Parkour. Ben Scheffler aus Köpenick war bis dahin kein großer Sportler, aber gerade die Zwanglosigkeit der Traceure beeindruckte ihn. Nur mit dem eigenen Körpergewicht und einem bestimmten „Mindset“ („Geisteshaltung“), wie er es nennt, zu arbeiten, war etwas Neues. Also begann er sich gemeinsam mit seinem Schulfreund Martin Gessinger damit zu beschäftigen. „Bis heute fasziniert mich das alles, weil es so viel mehr als nur sportliche Aktivität ist“, sagt Scheffler. Aber dazu später mehr.
Es geht um das „Wir“, nicht um die Vermarktung des Individuums
Heute erinnert er sich an seine Anfänge und dieses ziemlich hohe Trafo-Häuschen in Köpenick. „Bis wir da oben waren, dauerte es Tage.“ Seit 2007 sind Gessinger und er zu einer großen Gemeinschaft gewachsen. Sie trainieren sich und andere und haben schließlich die „ParkourONE Academy“ gegründet. Dort geben sie auch Kurse für Menschen mit Diabetes, drogensüchtige Jugendliche, Kinder oder Gehörlose.
Parkour, das ist für jeden, weil jeder die Sprache der Bewegung versteht. „Man braucht nur wenig Worte, um das Gemeinschaftsgefühl von Parkour zu leben“, sagt Scheffler. Es soll dabei übrigens um das „Wir“ gehen, weniger um die Vermarktung des eigenen Individuums. Obwohl es natürlich auch hier mittlerweile Sponsoring und Stars gibt, die um die Welt fliegen. Der Berliner aber glaubt, dass das nicht nachhaltig genug gedacht ist: „Auch wenn Parkour keine Altersgrenze hat, frage ich mich, was die machen, wenn sie 40 oder 50 sind, und nicht mehr so sportlich wie die jungen Nachzügler.“
Die Ursprünge liegen in Fluchtsituationen im Krieg
Parkour hat seinen Ursprung eigentlich im Krieg. Es sind die Fluchtsituationen, aus denen man sich in eigener Not winden musste. Die meisten, wie auch Scheffler, sehen im Franzosen David Belle den Begründer dieser Sportart. Sein Vater Raymond musste sich im Indochinakrieg als Soldat ausbilden lassen. Kampftechnik, Strategien – es ging ums Überleben. Das trug er an seinen Sohn weiter, der es verbreitete. „Mit Kampf hat das aber nur wenig zu tun“, sagt Scheffler. Vor allem nicht mit Konkurrenzkampf.
Die Grundwerte von Parkour sind nämlich: Konkurrenzfreiheit, Vorsicht, Respekt, Vertrauen und Bescheidenheit. „Für jeden Finger eine Eigenschaft, die man mitbringen sollte.“ Symbolisch hält Scheffler seine Hand hoch, ballt die Faust und sagt: „Mit all diesen Werten steht sie für den Mut, ohne dabei leichtsinnig zu sein.“
„Man lernt, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu überwinden“
Es wird klar, dass es bei Parkour nicht nur um körperliche, sondern auch um die mentale Kraft geht. Denn man muss sich immer wieder aus seiner Komfortzone begeben, um Fortschritte zu machen oder überhaupt erstmal zu beginnen – in andere Richtungen denken. Deshalb geben sie unter anderem auch Kurse für Menschen in Führungspositionen. „Man lernt sich und seine Grenzen, die man am Ende doch überwinden kann, besser kennen – setzt sich bewusst schwierigen Situationen aus und übt sich gleichzeitig in Gelassenheit sowie Geduld.“ Er persönlich hat seine Höhenangst mit Parkour abgebaut.
Für Scheffler und seine Kollegen ist es weniger Sport, auch wenn die ständigen Sprünge und das Hochziehen mit eigener Körperkraft ziemlich anstrengend sind, weil jeder Muskel, jedes Gelenk dabei beansprucht wird. Auch wegen der ewigen Wiederholungen, die man macht, weil die eigene Motivation mit der Zeit wächst, ein bestimmtes Hindernis doch noch zu überwinden. „Es ist damit zu einer Art Lebensphilosophie geworden – ohne dabei esoterisch klingen zu wollen“, sagt der 29-Jährige. Denn es geht ja auch im Alltag darum, immer wieder scheinbar Unüberbrückbares zu überwinden.
Die Gefahr von Stürzen und Verletzungen ist da
Und so ein Hindernis kann eben auch eine Mauer sein, die manchmal sogar kurzerhand von einem Objekt zum Subjekt wird. „Es gibt auch mal welche, die man hasst, weil sie eine krasse Frustration auslösen, wenn sie bei den ersten Versuchen unüberwindbar scheinen“, sagt Scheffler.
Bewegung ist so alt wie der Mensch selbst. Auch Parkour ist etwas sehr Ursprüngliches: Man lernt Beschaffenheiten von Oberflächen gut einzuschätzen und mit seinem Körper umzugehen. „Das Potenzial einer gewissen Gefahr ist da, so ganz ohne Matten zwischen Betonmauern und Eisenstangen“, sagt Scheffler zu Recht. Aber um sich zu bewegen und einen Anfang zu machen, reichen schon einzelne Präzisionssprünge von Treppenstufen aus. Wichtig dabei ist der stabile, hüftbreite Stand und das abfedernde Aufkommen mit den Fußballen.
Parkour sollte man von Anfang an als progressiven Teil des Lebens betrachten. „Da es keine Vorgaben gibt und jeder seine Fähigkeiten selbst skalieren kann, ist die Sportart so interessant für alle Altersstufen“, sagt Scheffler. Die ganzheitliche Bewegung sei schon gegeben, wenn man zunächst nur den Fokus trainiert, also seine Balance. „Für manch einen ist da schon das Stehen auf einem Bein mit geschlossenen Augen gar nicht so leicht.“ Probieren Sie das mal aus.