Viele blinde und sehbehinderte Menschen schwören auf Computer und Smartphones. Warum eigentlich?
Es ist eine seltsame Gruppe, die sich am Dienstag im Berliner Apple Store über ihre iPhones beugt. So auf den ersten Blick. Ein Holzstock liegt auf dem Tisch, ein Hund macht es sich darunter bequem. Der Sprachassistent Siri klingt aus den Lautsprechern der Smartphones in den Händen der Besucher, eine Computerstimme erklärt, was gerade auf den Bildschirmen zu sehen ist. Der Abstand zwischen Handy-Screen und Gesicht wird kleiner und kleiner. „Die Akustik hier im Raum ist aber gar nicht gut“, moniert jemand.
Wir sind zu Gast bei einem Workshop, zu dem Apple an diesem Tag in seinen Store am Kurfüstendamm eingeladen hat. Alle Teilnehmer sind in ihrem Sehvermögen eingeschränkt. Sie wollen sich über die unterstützenden Technologien von iPads und iPhones informieren. Sie wollen lernen und verstehen, wie man Smartphones und Tablets nutzen kann – auch wenn sie gar kein Sehvermögen mehr haben oder kaum noch etwas erkennen können.
Global Accessibility Awareness Day am Donnerstag
Am 19. Mai findet der mittlerweile fünfte „Global Accessibility Awareness Day“ statt. Immer am dritten Donnerstag im Mai gibt es Veranstaltungen weltweit, die für das Thema digitale Barrierefreiheit sensibilisieren sollen. Ob Paris, London, Sydney oder Los Angeles – in zahlreichen Workshops und Events werden Projekte vorgestellt und Fragen diskutiert, die sich mit dem Thema und den Menschen hinter und vor den Produkten befassen.
Eines der Unternehmen, das an diesem Tag spezielle Workshops anbietet, ist Apple. Um 15.15 Uhr und um 18.15 Uhr können sich Interessierte in Berlin über die Technologien des US-Konzerns informieren, mit denen blinden und sehbehinderten Menschen der Umgang mit Computern, Smartphones und Co. erleichtert werden soll.
Geleitet werden die Workshops von Jakob. Der gebürtige Pole ist seit knapp vier Jahren bei Apple und hat ein Sehvermögen von einem Prozent. Seinen ersten Computer kaufte er sich 1996 – „damals noch mit MS-DOS“. „Ich wollte unbedingt E-Mails schreiben“, erzählt er während des Events. „Für sehende Menschen ist der PC eine Alternative. Etwas, das das Leben bequemer macht.“ Für blinde Menschen sei er hingegen ein Ausweg aus Problemen, eine Erlösung. Und das nicht nur beim Schreiben von E-Mails. „Früher gab es nur eine einzige Zeitschrift für Blinde“, erinnert sich Jakob. „Dann kam das Internet, und die Programme fingen an zu sprechen.“
Gesprochen wird auch am Dienstag. Miteinander und mit den Smartphones. „VoiceOver“ heißt die auf Gesten basierende Bildschirmlesefunktion, mit der Menschen Apple-Geräte nutzen können, auch wenn sie das Display nicht sehen. Was sie nicht erkennen, wird ihnen beschrieben – egal ob Akkustand, App-Name oder Wetter. Wer Text eingeben möchte, der diktiert seine Nachricht ins Mikrofon. Und wer den schnellsten Weg nach Hause sucht, oder ans Gießen der Blumen erinnert werden möchte, der bittet Siri um Hilfe.
"Siri, bitte erinnere mich an meine Medikamente"
„Verstecke mich!“, bitten die Workshop-Teilnehmer jetzt ihre digitale Assistentin. Sie wollen ihren Standort nicht länger in der „Freunde“-App mit anderen teilen. „Erinnere mich daran, um 18 Uhr meine Medikamente zu nehmen!“, heißt es dann. Und: „Zeige mir den kürzesten Weg zu Fuß nach Hause!“
Ob Kalender, Navigation oder WhatsApp: Wer blind oder sehbehindert ist, kann Smartphones genauso nutzen wie andere Menschen. Mit einem virtuellen Rotor lässt sich durch Webseiten und Dokumente navigieren, mit Tippen, Wischen und Streichen kann zwischen Apps hin und hergewechselt und interagiert werden. Wer nicht dauernd in sein Telefon sprechen möchte, der kann auch auf die integrierte Braille-Tastatur zurückgreifen. Wenn man den Teilnehmern des Workshops zusieht, wird schnell klar, warum die neuen Technologien für blinde Menschen einen echten Mehrwert bedeuten.
„Wir Blinden haben früher immer gescherzt, dass man beim Verreisen allein für seine technischen Geräte einen eigenen Rucksack mitnehmen muss“, erinnert sich Robbie Sandberg. Der 46-Jährige ist Mitglied beim Blinden- und Sehbehindertenverband Hamburg und Berater für Barrierefreiheit bei incobs.de, einer Plattform, die über Technologien für Blinde und Sehbehinderte informiert. „Das kann man sich heute sparen“, erzählt er. „Ob Farberkennung, Texterkennung oder Navigation: das iPhone ist eine eierlegende Wollmilchsau.“ Und es hat seinen Alltag maßgeblich bereichert.
"Das ist ein Stück Teilhabe"
„Ich habe früher nie Urlaubsfotos gemacht. Warum auch“, sagt der 46-Jährige. Wenn er heute jedoch einen Ort als schön empfinde, dann würde er mit dem Smartphone Bilder machen, sie ins Internet hochladen und auf die Beschreibung warten, die spezielle Anbieter dann liefern. „Manchmal muss ich das Bild auch mehrmals machen, bis ich eine Beschreibung zurückbekomme, die das wiedergibt, was ich einfangen will.“ Anschließend teilt er die Aufnahme mit seinen Freunden und auf Facebook. „Das ist ein Stück Teilhabe. Dank solcher Apps kann man heute auf einem ganz anderen Level mit Sehenden kommunizieren.“
Das findet auch Jakob. „Ich kann den Menschen etwas mitgeben, was sie so noch nicht erlebt haben“, sagt er. Und sie danken es ihm. Mit Applaus und Worten. Die meisten von ihnen werden wiederkommen. Mit neuen Fragen. Und Jakob wird sie beantworten. Weil er seine Arbeit liebt. Weil ihm Technologien am Herzen liegen. Denn sie eröffnen ihm und anderen Menschen mit Sehbehinderungen Möglichkeiten, an die vor zwanzig Jahren niemand im Traum gedacht hätte.