In Berlin erhalten mindestens 1000 Flüchtlingskinder keinen Unterricht, obwohl sie schulpflichtig sind. Das ergab eine Umfrage der Berliner Morgenpost bei Betreibern von großen Unterkünften.
Die Senatsverwaltung für Bildung kommt mit ihrem Konzept, die Mädchen und Jungen, die in der Regel zwischen 6 und 16 Jahren alt sind, direkt in reguläre Schulen zu bringen und dort in eigenen Willkommensklassen vorzubereiten, nicht hinterher. Besonders rund um die großen Notunterkünfte herum ist die Lage kritisch. Obwohl nach Angaben der Bildungsverwaltung inzwischen 9400 Kinder 800 Willkommensklassen in regulären Schulen besuchen, wobei nicht alle davon Flüchtlinge sind. Der Bedarf ist aber deutlich größer.
Im ICC warten 80 Kinder auf einen Schulplatz
So sind nach Angaben der Betreiberfirma Tamaja allein in den Tempelhofer Hangars von den 430 dort wohnenden Kindern nur 180 in der Schule. Im ICC warten 80 Mädchen und Jungen auf einen Schulplatz, die Betreiber von den Maltesern bieten wie die meisten anderen Träger auch mit Hilfe von Freiwilligen vor allem Deutschunterricht an. An der Mertensstraße in Spandau mit 1000 Plätzen und 200 Schulpflichtigen gehe kaum ein Kind zur Schule, heißt es bei der Berliner Stadtmission.
Auch im Rathaus Wilmersdorf besuchen laut Arbeiter-Samariter-Bund etwa 40 Kinder keinen offiziellen Unterricht. Für die Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Spandau meldet der Betreiber Prisod einen Schulbesuch von 80 Prozent der 188 dort untergebrachten Kinder. Das Prozedere, die Kinder zu den Untersuchungen bei den Amtsärzten zu bringen, sei aber ziemlich aufwändig und könne dauern, sagte Sprecherin Susan Hermenau. Deshalb komme es zu Wartezeiten.
In der großen Notunterkunft des Roten Kreuzes Müggelspree in Karlshorst, wo unter 1000 Menschen auch 200 schulpflichtige Kinder leben, sind 70 eingeschult. 56 warten nach Angaben eines DRK-Sprechers auf einen Termin für die Schuleingangsuntersuchung. Im ebenfalls vom DRK Müggelspree betriebenen Heim in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Lichtenberg besuchen von 350 Kindern nur 20 eine Willkommensklasse, 20 sind bei einem kirchlichen Träger untergekommen. Das DRK hatte angeregt, dort ein internes schulisches Angebot aufzubauen. Auch der Bezirk habe das befürwortet, heißt es beim DRK, aber die Senatsverwaltung habe das Projekt zunächst scheitern lassen.
Stadtmisson wünscht sich mobile Lehrerteams
Die Behörden seien eher auf Willkommensklassen fixiert und haben nicht die nötige Flexibilität, sagt der Sprecher eines großen gemeinnützigen Trägers und gibt damit das Stimmungsbild seiner Kollegen wieder. Die Stadtmission als Betreiberin der Mertensstraße wünscht sich mobile Lehrerteams, die die Kinder in den Unterkünften unterrichten.
Politisch ist eine Abkehr vom Prinzip der Willkommensklassen jedoch heikel. In einzelnen Bezirken wie in Spandau ist der Streit darüber in der Lokalpolitik eskaliert, die auf Landesebene zusammen regierenden Parteien haben unterschiedliche Meinungen. Während die CDU dafür plädiert, die Kinder notfalls in den Einrichtungen zu unterrichten, schließt die SPD diesen Schritt kategorisch aus. „Kinder gehören in die Schule“, heißt es in einer Resolution der Sozialdemokraten. Im Kreise der Träger hört man, dass solche ideologischen Debatten kaum weiterhelfen würden.
Gefahr, dass die Willkommenskultur kippt
Der Fraktionsvorsitzende der Spandauer SPD, Christian Haß, sagte, man müsse jetzt nach Alternativen suchen, um Flüchtlingskinder in Schulen und nicht in den Heimen zu unterrichten. „Ich kann nur hoffen, dass die Bildungsverwaltung den Vorschlag der CDU stoppt“, sagte Haß. Spandaus Bildungsstadtrat Gerhard Hanke (CDU) hält dagegen, dass es im Ortsteil Siemensstadt nur eine Grundschule, aber mehrere Flüchtlingsheime gibt. An der Schule gebe es bereits drei Willkommensklassen und keinen Raum mehr, um noch weitere aufzumachen. „Wenn wir jetzt anfangen, der Schule die Teilungsräume oder spezielle Musikräume wegzunehmen, laufen wir Gefahr, dass die Willkommenskultur kippt“, sagte Hanke. Die Bezirksverordnetenversammlung hat deshalb auf Antrag der CDU beschlossen, im Notfall die Kinder in den Flüchtlingseinrichtungen unterrichten zu können.
Sozialdemokrat Haß dringt indes darauf, nach Alternativen zu suchen. „Wir könnten die Kinder in Bussen an Schulen bringen, die noch Platz für Willkommensklassen haben“, sagte er. Denkbar wäre auch, weitere modulare Ergänzungsbauten aufzustellen oder die Flüchtlingskinder am Nachmittag in der Schule zu unterrichten.
Auch in Reinickendorf wird es an den Schulen immer enger. Bildungsstadträtin Kathrin Schultze-Berndt (CDU) sagte der Berliner Morgenpost, dass sie die Flüchtlingskinder an Schulen über den ganzen Bezirk verteilt habe. „Wir haben derzeit 70 Willkommensklassen. Zehn weitere werden gerade eingerichtet.“ Bei insgesamt 60 Schulen sei man mit dann 80 Willkommensklassen an der Grenze des Machbaren angekommen. „Im Notfall werden auch wir Kinder in den Einrichtungen unterrichten müssen, damit die Schulpflicht umgesetzt wird“, sagte Schultze-Berndt.
Senatorin Scheeres hält Übergangslösungen für möglich
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) ist unter dem Druck der Verhältnisse geneigt, flexibel zu reagieren. „Das Grundprinzip bleibt“, sagte sie der Morgenpost. Es könne Übergangslösungen geben. Kinder aus den Hangars sollen demnächst in eigenen Willkommensklassen in der ehemaligen Teske-Schule am Tempelhofer Weg lernen. Wenn aber die Flüchtlinge aus den Massenunterkünften aus- und in Container oder Modularbauten einzögen, müsse man die Schulplatzfrage ohnehin neu bewerten.
Während die Politik streitet, gehen Verantwortliche vor Ort pragmatische Wege. In Lichtenberg werden Flüchtlingskinder seit einem Jahr in der Einrichtung an der Herzbergstraße unterrichtet. „Wir haben an den Schulen im Umfeld keinen Platz mehr für Willkommensklassen“, sagte Bildungsstadträtin Kerstin Beurich (SPD). Die Kinder würden ein bis drei Monate im Heim unterrichtet, dann könnten sie in Regelklassen eingeschult werden.