Berlin. Fast jeder neunte Berliner Jugendliche hat im Schuljahr 2014/2015 die Schule ohne Berufsbildungsreife, also ohne Hauptschulabschluss, verlassen. Das geht aus einer Erhebung der Senatsbildungsverwaltung hervor. Die Bilanz wird von Jahr zu Jahr schlechter: Für das vergangene Schuljahr lag die Quote bei 10,9 Prozent, im Unterrichtsjahr 2013/2014 hatten 9,2 Prozent ihre Schullaufbahn ohne Abschluss beendet. Auch dieser Wert lag deutlich über dem der beiden Vorjahre mit 7,9 beziehungsweise 7,4 Prozent. Bundesweit wird die Quote mit rund sechs Prozent angegeben, allerdings gibt es starke Unterschiede zwischen den Ländern.
Die Berliner Verwaltungsdaten zeigen erneut erhebliche Unterschiede zwischen den Bezirken auf. In Mitte schaffte jeder fünfte Schulabgänger (20 Prozent) nicht die Berufsbildungsreife, in Neukölln jeder sechste (16 Prozent). In Steglitz-Zehlendorf lag die Quote nur bei 5,6 Prozent, in Charlottenburg-Wilmersdorf bei 6,1 Prozent. In allen Bezirken ist der Anteil der Jungen ohne Abschluss höher als der der Mädchen, berlinweit sind es 12,9 Prozent männliche und 8,8 Prozent weibliche Jugendliche. Besonders groß sind die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Mitte, Spandau und Neukölln.
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Zudem werden große Differenzen bei den Ergebnissen der Jugendlichen deutscher und nicht deutscher Herkunftssprache deutlich. 7,4 Prozent der Jugendlichen deutscher Herkunftssprache verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss, aber 18,6 Prozent der Schüler nicht deutscher Herkunft. Besonders auffällig sind diese Unterschiede in Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf und insbesondere Pankow, wo das Verhältnis bei 5,7 zu 29 Prozent liegt.
„Die Entwicklung der Zahlen entsetzt mich“
Die Statistik der Bildungsverwaltung ist die Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des Neuköllner SPD-Abgeordneten Joschka Langenbrinck. Sie wurde noch nicht vom Abgeordnetenhaus veröffentlicht, liegt der Berliner Morgenpost aber vor. „Die Entwicklung der Zahlen entsetzt mich“, sagte Langenbrinck. Er forderte eine „Qualitätsoffensive in unseren Schulen“. Es sei notwendig, die Arbeitsbelastung der Lehrer zu senken, entweder durch kleinere Klassen oder eine Reduzierung der Unterrichtsstunden pro Lehrer.
Langenbrinck verteidigte das von der rot-schwarzen Koalition 2013 beschlossene Brennpunktschulprogramm, durch das Schulen mit hoher sozialer Belastung bis zu 100.000 Euro pro Jahr zusätzlich erhalten. Es sei deutlich, dass es greife, für eine detaillierte Bewertung existiere es aber noch nicht lange genug. Auch Katrin Schultze-Berndt, Vorsitzende des Arbeitskreises Bildung der CDU, sagte der Morgenpost, dass die Schulen besser mit Personal ausgestattet werden müssen.
Gestiegene Zahl von Schülern aus Flüchtlingsfamilien
Die Bildungsverwaltung zeigte sich mit der Entwicklung ebenfalls unzufrieden. „Ein zentrales Ziel der Berliner Schulen ist und bleibt es, alle Schüler zu einem Schulabschluss zu führen. Die Zahl der Schüler ohne Berufsbildungsreife im Schuljahr 2014/15 deutet darauf hin, dass wir dieser Herausforderung noch nicht umfassend gerecht werden“, sagte Ilja Koschembar, Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Die erneute Steigerung der Schüler ohne Abschluss führte Koschembar auf die gestiegene Zahl von Schulabgängern aus Flüchtlingsfamilien zurück. Diese würden aber nicht gesondert statistisch erfasst, sondern seien Teil der Absolventen nicht deutscher Herkunftssprache.
Frühkindliche Bildung stärken
Bildungsexperte Langenbrinck will deshalb vor allem die frühkindliche Bildung stärken. Je länger ein Kind eine Kita besuche, desto weniger Sprachmängel weise es auf, sagte er der Berliner Morgenpost. Werde es aber mit Sprachmängeln eingeschult, komme es im Unterricht nicht mit und schaffe häufig auch keinen Abschluss – ein Teufelskreis. Die Qualität des Schulunterrichts müsse gesteigert werden, dazu seien mehr Lehrer notwendig. „Da müssen wir mehr Geld in die Hand nehmen“, lautet Langenbrincks Fazit.
Der SPD-Abgeordnete fordert auch finanzielle Zulagen für Lehrer an Brennpunktschulen und Erzieherinnen an Kitas in sozialen Problemkiezen, um junge, motivierte Kräfte in diese Stadtteile zu bekommen. Darüber wolle er mit Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) sprechen. „Wir müssen die Bildung gestalten, nicht verwalten“, sagte Langenbrinck. Notwendig sei zudem, den Ganztagsbetrieb zu stärken: „Die Hort-Bedarfsprüfung muss weg, alle Kinder sollen ohne Hürden gefördert werden.“ Verpflichtende Ganztagsschulen seien der beste Motor für Integration und förderten die Kinder und Jugendlichen am besten.
Kathrin Schultze-Berndt, Vorsitzende des Arbeitskreises Bildung der CDU, forderte ebenfalls, dass die Schulen besser mit Personal ausgestattet werden. „Die Lehrer sollten nur für den Unterricht und die pädagogische Arbeit da sein und sich nicht noch um andere Dinge kümmern müssen.“ Schultze-Berndt stellte auch die vielen neuen Lernmethoden in Frage. Gerade schwächere Schüler bräuchten klare Regeln und Strukturen. Schon Grundschüler müssten oft selbst entscheiden, wie und was sie lernen wollen. Das überfordere vor allem jene Schüler, die zu Hause nicht unterstützt werden. „Schon in der Grundschule klappt es nicht mehr, die Kinder am unteren Rand mitzunehmen“, sagte Schultze-Berndt. Viele würden am Ende der Grundschulzeit weder richtig schreiben noch lesen können. In der Oberschule kämen sie dann nicht mehr mit. Die Entwicklung sei gefährlich und ein wesentlicher Grund dafür, dass immer mehr Kinder die Schule ohne Abschluss verlassen.
Schüler ändern sich nicht von heute auf morgen
Thomas Schumann, Schulleiter der Herbert-Hoover-Sekundarschule in Gesundbrunnen, sagte der Berliner Morgenpost, dass man mehr Geduld haben müsse. „Es ist ein Irrglaube, dass sich an den Schulen schnell etwas ändert, wenn sie mehr Geld bekommen.“ Die Schüler würden sich nicht von heute auf morgen ändern. Als Beispiel führte Schumann den strengen Umgang mit Zuspätkommern an seiner Schule an. „Wer zwei Minuten nach acht Uhr kommt, muss vor der Schule warten, und zwar bei jedem Wetter“, sagte er. Diese klare Regel würde trotzdem viele nicht davon abhalten, immer wieder zu spät zum Unterricht zu kommen. „Das ist eine tiefverwurzelte Angewohnheit und hat oft damit zu tun, dass in der Familie außer den Jugendlichen niemand früh aufstehen muss.“ Es nütze deshalb nur bedingt etwas, wenn Schulen mehr Lehrerstunden bekämen oder mehr Geld für Sozialarbeiter zur Verfügung hätten. „Wichtig ist, dass sich auch die Strukturen in den Familien ändern“, sagte Schumann.
Die GEW-Vorsitzende Doreen Siebernick sagte, dass es schwierig für die Integration sei, wenn insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund oft keinen Schulabschluss bekämen. Die Bildungsverwaltung müsse das Problem so schnell wie möglich lösen, auch wegen der vielen nach Berlin geflüchteten Kinder und Jugendlichen. Diese Kindern müssten die Chance bekommen, einen Schulabschluss zu machen. Die Bildungsverwaltung müsse prüfen, ob die teuren Sonderprogramme tatsächlich erfolgreich sind, forderte Siebernick. Schulen in sozialen Brennpunkten brauchten mehr Unterstützung. „Sonst werden sie noch weniger von bildungsbewussten Familien ausgewählt, und die sozialen Probleme sammeln sich dort.“ Zeitlich begrenzte Bonusprogramme seien kein Ersatz für eine bessere Regelausstattung.
Die Bildungsverwaltung verwies darauf, dass auch Schüler ohne Abschluss eine Perspektive hätten und berufsqualifizierende Lehrgänge an Berufsschulen absolvieren könnten. Zudem habe der Senat im vergangenen Jahr ein neues Landeskonzept für die Berufs- und Studienorientierung beschlossen.