Die Sonntagsserie in der Berliner Morgenpost. Heute: ein Spaziergang mit Heiner Koch, Katholischer Erzbischof von Berlin.

Fangen wir doch am Ende an. Am Schluss unseres Spaziergangs kehren wir bei den „Zwölf Aposteln“ ein, der momentanen Lieblingspizzeria des Bischofs. Pizza Jakobus, Simon, Tommaso und die anderen stehen auf der Karte. „Welche nehmen Sie?“, frage ich. „Pizza Johannes“, antwortet Bischof Heiner Koch. „Aus biblischen Gründen?“ – „Nein“, lacht er, „aus Belaggründen.“ Rote Zwiebeln, Champignons, Sardellen, luftgetrockneter Schinken, das klingt ja auch wirklich zu gut.

Berlin und sein neuer katholischer Erzbischof Heiner Koch – das passt. Der Mann hat den Humor, die Gelassenheit, die Streitlust und den Glauben, die ihm diese Stadt abverlangt. „Auch der Atheismus ist für mich ein Glaube. Denn auch der Atheist glaubt – nämlich, dass es keinen Gott gibt.“ So sieht er das. In einer Stadt, in der die Mehrheit ohne Religion lebt, ist das eine konstruktive Position. Eine, von der aus sich diskutieren lässt. Es haut ihn nicht um, wenn jemand am Christentum zweifelt. Im Gegenteil, es fordert ihn heraus: Glaub bloß nicht, dass du nicht glaubst, mein Lieber. So einfach ist es nicht!

Erzbischof Heiner Koch mit Reporterin Susanne Leinemann am Bodemuseum
Erzbischof Heiner Koch mit Reporterin Susanne Leinemann am Bodemuseum © Reto Klar | Reto Klar

Viele Schattierungen des Nichtglaubens

Der geborene Rheinländer kennt inzwischen viele Schattierungen des Nichtglaubens. Die bekennenden Atheisten. Die Zweifler. Diejenigen, die den Glauben irgendwann aus den Augen verloren haben. Denen der Löffel vor Schreck in die Suppe fällt, wenn die kleine Tochter aus der Schule kommt und unvermittelt fragt, warum „wir keine Christen sind“. Und die vielen aus dem Osten, aus der ehemaligen DDR, die sagen: „Wir sind seit Generationen nüscht.“ Oder wie ein Mann mal zu ihm sagte: „Ich habe ganz vergessen, dass ich Gott vergessen habe.“ Man spürt gar nicht mehr, dass da vielleicht was fehlt.

Warum er das alles so gut kennt? Bischof Heiner Koch wird langsam zum Experten für die deutsche Diaspora. Er wird dorthin geschickt, wo die Katholiken eine klare Minderheit sind. Erst war er Bischof von Dresden-Meißen, wo ganze vier Prozent der Bevölkerung katholisch sind. Und nun Berlin.

Bevor ich den Bischof treffe, habe ich seine schwarzen Handschuhe in der Hand. „Können Sie ihm die geben? Er hat sie vergessen, und es ist kalt“, sagt sein Assistent, bevor er weitereilt. Dann kommt er selbst durch den geklinkerten Innenhof des Erzbischöflichen Ordinariats gelaufen, einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, lange Zeit ein katholisches Krankenhaus, bis es zu SED-Zeiten zur staatlichen Frauenklinik wurde. Der Bischof trägt schwarz – schwarzer Mantel, schwarze Hose, schwarze Schuhe und nun auch schwarze Handschuhe. Nur der weiße Kragen blitzt hervor. Passanten und Touristen fällt nicht weiter auf, dass hier ein Bischof durch Berlins Mitte läuft. Gut, sein goldener Bischofsring ist vom Handschuh verdeckt. Aber das ist es nicht, es ist seine Art. Sollte es so etwas wie Berührungsangst geben, lässt er sie gar nicht erst aufkommen.

Nur 400.000 Gläubige im ganzen Bistum

Es dauert nicht lange, da lacht der 61-Jährige zum ersten Mal laut auf. Hundert Meter sind wir gegangen, höchstens zweihundert. Von der Niederwallstraße her, wo das Ordinariat liegt, haben wir den Hausvogteiplatz überquert und laufen nun die Oberwallstraße entlang in Richtung unseres ersten Zieles – der St. Hedwigs-Kathedrale.

„Als Sie Weihbischof in Köln waren, waren Sie nur für den Süden des städtischen Bistums zuständig, das waren ...“

„800.000 Gläubige“, ergänzt er.

„Und hier kommen Sie auf nur rund 400.000 im ganzen Bistum. Mit allem drum und dran.“

„Mit allem Drum und Dran“ – da muss er lachen. Drum und Dran, das ist neben Berlin noch Brandenburg und Vorpommern. Von Luckenwalde bis Kap Arkona, so groß ist sein neues Erzbistum; rein flächenmäßig das zweitgrößte Bistum Deutschlands. Doch in manchen Gegenden kann man die Katholiken einzeln mit Handschlag begrüßen, so wenige sind es. Von Heiner Kochs 400.000 Katholiken leben rund 331.000 in Berlin. Der kümmerliche Rest verteilt sich über Brandenburg und Vorpommern.

„Ja, das ist hier Diaspora“, sagt er. „Aber eine qualifizierte Diaspora.“ Wer hier Katholik sei, der sei es oft mit ganzem Herzen – und oft genug mit Engagement. Der hat sich entschieden, in der Kirche zu bleiben. Der ist bewusst Katholik. Denn keine Konvention oder Tradition erwartet das von ihm. Anders als beispielsweise in Köln. „Wir sind rheinisch-katholisch“, heißt es dort. Ein Schunkel-Katholizismus light, man ist in der Kirche wie im Karnevalsverein. Gehört halt dazu.

Wer hier Christ ist, ist es aus Überzeugung

„Die hier Christen sind, sind es aus Überzeugung, die sind es mit Kraft“, sagt er. Das sei ihm schon während seiner zwei Jahre in Sachsen klar geworden, wo er im Januar 2013 sein Bischofsamt antrat. Dresden, das wird schnell klar, hat ihm sehr gefallen, es fiel ihm nicht leicht, dort Abschied zu nehmen. „Der Ruf nach Berlin kam für mich völlig unerwartet“, erzählt er. Sein Berliner Vorgänger Rainer Maria Woelki, der ja nur kurz in der Hauptstadt im Amt war, wurde zum Nachfolger von Joachim Kardinal Meisner in Köln ernannt. Das Bischofskarussell drehte sich, und in Rom besetzte man die Ämter neu. Da hieß es plötzlich: Auf nach Berlin. Bei seiner letzten Pressekonferenz in Dresden machte Bischof Koch aus seinem Abschiedsschmerz keinen Hehl.

Aber offenbar hat ihn Berlin schnell gepackt. „Diese ganze Stadt ist unheimlich spannend, denn es gibt nicht einen Weg, es gibt nicht ein Zukunftsmodell. Das wird bunt sein und bleiben.“ Und auch die katholische Kirche vor Ort mit den verschiedenen Gemeinden, den Orden, den karitativen Einrichtungen muss vielfältig bleiben, „sonst kriegen wir hier kein Bein auf den Boden“.

Im Moment schaut er sich um, er muss sein großes Bistum erst mal kennenlernen. Er ist viel in der Stadt unterwegs, besucht Gemeinden in Moabit, die Malteser-Flüchtlingsunterkunft im ICC in Charlottenburg, eine große katholische Schule in Nordneukölln und auch das Zentrum für gleichgeschlechtliche Flüchtlinge – genau, richtig gelesen, ein Ort, wo schwule und lesbische Flüchtlinge Hilfe kriegen. „Die meisten dort waren Syrer“, erzählt er. Und die waren froh, dass ihnen zugehört wurde, denn von ihren Landsleuten erfahren sie oft nur Ablehnung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar, das gilt für jeden“, sagt er. Egal, wie die sexuelle Orientierung sei.

Nicht egal ist ihm seine Glaubensüberzeugung: Eine Ehe ist eine Ehe, und die wird geschlossen zwischen Mann und Frau. Die Spannung zwischen gesellschaftlicher Realität, Glaube und Dogma hält er aus, indem er versucht, die Dinge und die Menschen konkret und persönlich zu sehen. Da ist er ganz Seelsorger.

Berlin steht für erfahrungshungrige Atemlosigkeit

Denn hier in Berlin werden die Dinge konkret. Gerade gehen wir durch das Foyer der Humboldt-Universität, vorbei am Zitat von Karl Marx, diesem leidenschaftlichen Kirchengegner. Das Zitat auf dem Marmor wurde nie entfernt – warum auch? Hier wird Vielfalt gelebt. Und so ist es auch in den Gemeinden: Geschiedene, gläubige homosexuelle Katholiken, Alleinerziehende, sie alle gehören dazu. Die Priester spüren täglich, wie die Gesellschaft sich wandelt.

Und auch dieser Bischof ist keiner, der sich hinter katholische Mauern zurückzieht. „Wir müssen rausgehen“, sagt er immer wieder. Er predigt über Dinge, die den modernen Menschen beschäftigen. Wer nicht an Gott glaubt, nicht an ein Leben nach dem Tode, der muss alles ins Hier und Jetzt packen, koste es, was es wolle. Man hat ja nur dies eine Leben. „Dann gibt es im Leben schnell ein atemloses Gehetze“, sagt Bischof Koch. Wenn Berlin für irgendetwas steht, dann für diese erfahrungshungrige Atemlosigkeit.

An der Spree beim Bode-Museum treffen wir einen jungen Mann mit Bierflasche in der Hand. Es ist mittags, gerade mal zwölf Uhr. Er hat längere strähnige Haare und einen Bart. Hipster oder Penner? Schwer zu sagen. „Tschuldigung, wir haben mal eine Frage: Das DDR-Museum, wo ist das denn?“ Jetzt taucht auch die Freundin auf. Aha, Berlintouristen. Wir erklären den Weg.

Fällt ihm das auf – die Touristen, die mittags schon mit der Flasche durch die Stadt schlendern? Das würden die zu Hause doch niemals tun, aber hier, in crazy Berlin, lassen sie es krachen. „Ja, einmal ausleben“, sagt Bischof Koch. Berlin, die Stadt, wo wilde Bierflaschenträume wahr werden. Er ahnt, wie fordernd diese Stadt auch sein kann mit ihrer Überdrehtheit, ihrer gefeierten Kaputtheit. „Ich frage mich natürlich, wo sind meine Ruhepole in der Stadt, meine Kraftquellen.“ Um wieder aufzutanken. Im Moment hat er eine kleine Wohnung im Militärbischofsamt, abends geht er gern an der Spree entlang, an deren Ufer wir nun stehen. Flüsse sind ihm immer wichtig gewesen. Erst war es der Rhein – denn aufgewachsen ist er in Düsseldorf, studiert hat er in Bonn und zum Bischof ernannt wurde er in Köln. Dann die Elbe in Dresden. Nun die Spree. „Jetzt habe ich die großen Flüsse durch – wenn man von Weser und Isar absieht.“ Was bleibt da noch? „Der Tiber?“ – „Nee, der führt ja kaum Wasser. Und im Sommer stinkt er.“

Gemeinden werden in „pastorale Großräume“ zusammengelegt

Gemütlich werden die nächsten Jahre nicht. Im Berliner Erzbistum stehen große Veränderungen an. Bis 2020 sollen Gemeinden zusammengelegt und rund dreißig „pastorale Großräume“ geschaffen werden. „Wo Glauben Raum gewinnt“ heißt das Motto – das ist schönstes Neusprech für eine Sparmaßnahme. Bischof Koch will, dass ganz konkret geschaut wird: „Wie können wir hier wirken?“ Wie kann man mit wenigen Leuten und wenig Mitteln möglichst viel in Gang setzen oder in Gang halten in diesem eher armen Bistum? Nein, auf die Zahl dreißig will er sich nicht festlegen. Aber eines sei klar: „Es gibt nicht einen Weg, sondern viele Wege.“ Wichtig sei es, lebendige Gemeinschaften zu bilden. „Allein hält keiner durch.“ Wir laufen gerade unter einer Brücke hindurch, über uns rattert die S-Bahn.

Auch außerhalb der Kirche ist die Stadt im Umbruch, allein durch die vielen Flüchtlinge. Die katholischen Malteser betreuen mehrere Flüchtlingsheime. Gibt es Berührungsängste zwischen Muslimen und christlichen Helfern? „Nein, im Gegenteil.“ Leute, die aus dem Glauben heraus helfen, seien vielen Menschen aus dem Nahen Osten vertrauter als Helfer, die ohne Glauben sind. Aber er macht sich seine Gedanken, wie gut ein interreligiöser Dialog funktionieren kann. Der Islam sei ja keine Einheit, es gebe viele Strömungen, die häufig auch eine staatliche Anbindung an ferne Regierungen oder Herrscherhäuser haben, in die Türkei oder nach Saudi-Arabien.

Dass in der Silvesternacht in Köln der Dom mit Raketen beschossen wurde, macht ihn nachdenklich. „Ich glaube, die Flüchtlingsfrage wird fruchtbringend für die Gesellschaft werden. Aber es wird auch ein harter, steiniger Weg.“ Köln habe zumindest gebracht, dass man jetzt klarer rede.

Eine Sache noch, der Bischof ist Fußballfan. „Aber Fortuna-Düsseldorf-Fan in Berlin zu sein, das geht ja gar nicht – tut mir leid“, sage ich. „Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mir damit leid tue. Und zwar seit Jahren“, antwortet er schlagfertig. Jahrelang sei er dem Verein sogar in der 4. Liga hinterhergereist, das sei wirklich hart gewesen. Jetzt freut er sich auf Hertha BSC und Union-Spiele. Er hält sich beides offen.

Apropos schlagfertig. Als Pizza bestelle ich Judas mit Peperoni und scharfer Salami. Aber sie ist viel zu groß, nach zwei Dritteln gebe ich auf. „Judas hat mich fertiggemacht.“ „1:0 für Judas“, kommentiert der Bischof grinsend. Der Mann hat Witz. Den braucht man in Berlin. Und eine Menge Gottvertrauen.