Der Polizeieinsatz in Friedrichshain weckt bei Anwohnern schlechte Erinnerungen an die Hochzeit der Besetzerszene. Ein Besuch vor Ort.

Das Haus in der Rigaer Straße ist auch ohne Hausnummer leicht zu finden. Über der mit Graffiti und Plakaten bedeckten Eingangstür wurde der Spruch „Unsere Leidenschaft für die Freiheit ist stärker als jede Autorität“ gesprüht. Im Hof selbst sieht es aus wie auf einer Müllhalde. Abfall und Papierfetzen liegen herum, alte Bretter, ein Bettgestell. Drei Männer stehen vor einer weißen Tür und rauchen. Sie verschwinden, als der Fotoapparat auf sie gerichtet wird, und schlagen die Tür mit einem lauten Knall zu. Unter einem Fenster hängt ein weißes Transparent mit schwarzer Schrift: „You cant evict a movement“ („Sie können eine Bewegung nicht vertreiben“).

Am Mittwoch war das Haus mit der Nummer 94 kurz nach zwölf Uhr Fluchtort für vier Vermummte. Kurz zuvor hatten sie einen Kontaktbereichsbeamten zusammengeschlagen. Der 52-Jährige wollte an einem falsch geparkten BMW einen Strafzettel befestigen, als sich ein maskierter Mann näherte. Als der Polizist den Ausweis des Maskierten sehen wollte, stürmten zwei weitere Männer und eine Frau auf den Beamten los, brachten ihn zu Fall, schlugen und traten ihn. Sein Versuch, einen der Täter festzunehmen, scheiterte. Die vier Angreifer flüchteten, wie es heißt, in das Haus in der Rigaer Straße 94. Abends folgte dann ein Einsatz von 500 Polizeibeamten und eines Spezialeinsatzkommandos (SEK). Sie stürmten das Gebäude und fanden Einkaufswagen und Plastikwannen voller Steine sowie Eisenstangen und sogenannte Krähenfüße – also Stahlkrallen, mit denen Autoreifen beschädigt werden können.

Teure Eigentumswohnungen neben verwahrlosten Häusern

Anwohner Rolf K. kommt jeden Tag an diesem Haus vorbei. Er zeigt uns den Hof und die Schlafstatt im Hausflur: „Hier legen manche nachts ihre Matratzen hin. Und die hintere Ecke benutzen sie als Toilette. Das stinkt dann manchmal bis auf die Straße.“ Der 65-Jährige fand den Einsatz der Polizei „durchaus nachvollziehbar“. Er wohnt ein paar Häuser entfernt auf der anderen Straßenseite und arbeitet „als Nachtwache“ in einer Einrichtung für betreutes Wohnen, die sich ebenfalls in der Rigaer Straße befindet. Rolf K. ist, wie er selbst sagt, „ein Urgestein“, lebt schon mehr als ein Vierteljahrhundert hier, hat „schon viel Radau erlebt“.

Den Kontaktbereichsbeamten kennt er schon seit Jahren. „Ein netter, freundlicher Beamter“, der aber stets sehr konsequent gegen Parksünder vorgehe und Knöllchen verteile. „Vor allem vor dem Heinrich-Hertz-Gymnasium in der Rigaer Straße 81.“ Rolf K. findet es gut, dass es einen Kontaktbereichsbeamten gibt, der auf Ordnung achtet. „Die Gegend hier ist inzwischen verrufen. Meine Tochter traut sich abends kaum noch, mich zu besuchen.“

Katharina P.*, die im Nebenhaus wohnt, wertet „das Polizeiaufgebot“ dagegen als „total übertrieben“. Die Studentin hat vom Fenster ihrer WG aus Szenen des Einsatzes aufgenommen: wie Polizisten in den Hof des Hauses stürmen und wie sie mit einer Flex die Eingangstür zu öffnen versuchen. „Es war eindeutig eine Gegenreaktion wegen des verprügelten Polizisten“, sagt die 25-Jährige.

Die Rigaer Straße ist eine typische Berliner Nebenstraße. Und wie häufig in Berlin prallen hier die Gegensätze aufeinander. Nahe dem besetzten Haus, in der Rigaer Straße 90, gibt es einen neu gebauten Block. Mit, wie Rolf K. glaubt, „sündhaft teuren Eigentumswohnungen“. Dass diese Durchmischung nicht immer unverkrampft hingenommen wird, zeigt sich an den Toren einer Tiefgarage: „Willkommen im Gefahrengebiet“ wurde mit blauer Farbe aufgesprüht. Das Tor daneben hat diverse Löcher, die vermutlich mit einem Hammer verursacht wurden. Und es gibt eine – wieder in Blau – gesprühte Aufschrift „ACAB!“ (All cops are bastards/Alle Polizisten sind Bastarde).

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Kommunikationszentrum der Rigaer Straße ist offenkundig die „Bäckerei 2000“, in der Kaffee getrunken und gefrühstückt wird. Thema des Tages ist natürlich der Polizeieinsatz am Abend zuvor. „Die waren mit einem Hubschrauber unterwegs und haben sogar in meine Wohnung hineingeleuchtet“, berichtet eine Anwohnerin. Ein Mann versucht zu beschwichtigen. Es sei ja immerhin lange Zeit ruhig gewesen in der Rigaer Straße, sagt er. „Ich erinnere mich an Zeiten, da ging es hier beinahe täglich zur Sache.“

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Die Rigaer Straße gilt als eine der letzten Hochburgen der militanten linken Szene in Berlin. Immer wieder werden in der Gegend Streifenwagen und Polizisten mit Steinwürfen von den Dächern angegriffen. Hauswände in der Umgebung werden beschmiert und Autos angezündet. Schon 2003 hatte es hier regelmäßig größere Auseinandersetzungen mit den Besetzern gegeben.

Anwohner David B., der seine Meinung auf Facebook stellte, sieht das sehr kritisch. „Als unmittelbarer Nachbar geht’s mir total auf den Sack. Vor allem, wenn die wie gestern Nacht die Anlage komplett aufdrehen und den ganzen Kiez mit Punkrock beschallen.“ Lob fand er für die Beamten: „Die Polizei macht übrigens alles richtig, verhält sich super gegenüber den Anwohnern und begleitet sie freundlich zu ihren Wohnungen, wenn gesperrt wurde.“

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Am Tag nach der brutalen Attacke auf den Kontaktbereichsbeamten zeigen die Kollegen besondere Präsenz. Etwa alle 15 Minuten rollen Streifwagen, manchmal auch Mannschaftswagen langsam durch die Rigaer Straße. Falschparker erhalten Strafzettel. Andere Beamte führen auf dem Gehweg vor dem Heinrich-Hertz-Gymnasium Personenkontrollen durch, vor allem bei jungen Leuten mit Kapuzenjacken. Um 12.10 Uhr kommen zwei Mannschaftswagen. Zehn Beamte betreten nacheinander mit einer Leiter die Häuser Nummer 95 und 96. Zwei junge Leute, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, rufen „Bullenschweine“ – und machen sich eilig davon. Bis in den Abend wird die Polizei weiter Präsenz zeigen und Personen kontrollieren. Gegen 21 Uhr verlesen Anwohner eine Erklärung, in der sie das Vorgehen der Polizei und die Durchsuchungen ihrer Wohnungen am Mittwoch als unangemessen und rechtswidrig kritisieren.

Wohnhaus mit verschlossenem Stahltor geschützt

Rolf K. hat „schon öfter mal überlegt, in eine andere Gegend zu ziehen“. Er ist aber unsicher, „ob ich mir das in meinem Alter noch antue“. Studentin Katharina P.* hat dagegen nicht die Absicht wegzuziehen. Bevor sie vor drei Jahren in die WG in der Rigaer Straße zog, wohnte sie in Charlottenburg in der Nithackstraße. In der Rigaer Straße fühle sie sich nachts sogar sicherer, sagte sie: „Weil hier eigentlich immer Menschen unterwegs sind. Und belästigt oder gar körperlich angegriffen wurde ich hier noch nie.“

Eine etwa 30-jährige Frau, die mit einem Kind auf dem Arm das Haus gegenüber der Nummer 94 verlässt, wird ihre Wohnung aufgeben. Sie zog vor sechs Jahren aus Hamburg her, wählte bewusst den Szenebezirk Friedrichshain. Der Eingang ihres Hauses hat ein massives Tor aus verzinktem Stahl, das auch am Tage verschlossen wird. Es gebe zudem „einen sehr tüchtigen Hausmeister, der zwei Hunde hat“. Aber bleiben werden sie und ihre Familie nicht. „Was mich hier stört, ist die zunehmende Gewaltbereitschaft.“

* Name geändert