Berliner Verfassungsschutz zählt 79 Angriffe auf Berliner Flüchtlingsunterkünfte. Der Schwerpunkt liegt im Osten der Stadt.
Flüchtlingsunterkünfte im Ostteil der Stadt werden immer häufiger zur Zielscheibe von Rechtsextremen. Das geht aus einem Lagebild des Berliner Verfassungsschutzes hervor, das am Dienstag vorgestellt wurde. Demnach gab es zwischen Januar 2014 und Oktober 2015 insgesamt 79 Straftaten im Umfeld von Flüchtlingsunterkünften.
64 der 79 Straftaten, das sind mehr als 80 Prozent, waren gegen Einrichtungen im Osten der Stadt gerichtet. Die mit Abstand meisten Übergriffe ereigneten sich in Marzahn-Hellersdorf. Dort wurden allein im direkten Umfeld von fünf Gemeinschaftsunterkünften 29 Straftaten registriert. Besonders im Focus standen dabei das Containerdorf in der Schönnagelstraße sowie die Gemeinschaftsunterkunft an der Maxie-Wanderstraße im Ortsteil Hellersdorf.
Bundeskriminalamt zählt 817 Delikte
Bundesweit hat sich die Zahl der Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte dieses Jahr im Vergleich zu 2014 bereits mehr als vervierfacht. Seit Jahresbeginn erfassten die Polizeibehörden der Länder 875 solcher Straftaten. Das belegt ein aktueller Bericht des Bundeskriminalamts (BKA), der der "Bild"-Zeitung (Bezahlinhalt) vorliegt. Bis zum 14. Dezember hatte das BKA noch 850 Übergriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte gezählt.
Stark gestiegen sind danach Gewaltdelikte gegen Flüchtlinge. Mit 148 Fällen haben sich die Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr (28 Fälle) verfünffacht. Darunter waren 77 Brandstiftungen. Im gesamten Jahr 2014 wurden nur 10 Fälle gezählt.
Hochphase mit 33 Angriffen
Ist bundesweit eine fast lineare Entwicklung bei Angriffen gegen Flüchtlingsheime zu erkennen, gibt es in Berlin starke Schwankungen. Die Verfassungsschützer heben in ihrem Lagebild hervor, dass es zwischen Oktober 2014 und Februar 2015 eine „Hochphase“ mit insgesamt 33 Straftaten gegeben hat. Die Schwerpunkte lagen dabei in Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick sowie Pankow.
„Diese Phase ist weitgehend deckungsgleich mit der (ersten) Hochphase der -Gida-Demonstrationen und den vor allem im Berliner Ortsteil Hellersdorf zum damaligen Zeitpunkt regelmäßig durchgeführten Demonstrationen rechtsextremistischer Bürgerbewegungen/Bürgerinitiativen“, schreiben die Verfassungsschützer in ihrem Lagebild. Sie kommen deshalb zu dem Schluss, dass es einen „zumindest mittelbaren Zusammenhang zwischen rechtsextremistischer Hetze und der Zunahme von Straf- und Gewalttaten gegen Flüchtlingsunterkünften“ gibt.
Innensenator Frank Henkel (CDU) sagte der Berliner Morgenpost: „Die Analyse zeigt die gefährlichen Zusammenhänge zwischen rechtsextremer Beeinflussung von Demonstrationen und Veranstaltungen auf. Es ist wichtig, dass wir die Bevölkerung in dieser Frage sensibilisieren, damit sie nicht auf die falschen Versprechungen von Rechtsextremen hereinfällt.“
Das Internet als Katalysator
Besonderes Augenmerk legen die Verfassungsschützer auf das Internet und die sozialen Medien wie Facebook, Twitter und Co. Sie wirkten als eine Art Katalysator, um rechtsextremistische Propaganda viel schneller und an einen viel größeren Empfängerkreis zu verbreiten. „Quantität und Qualität fremdenfeindlicher Hetze haben massiv zugenommen“, heißt es im Lagebild. Dies führe zu einer zunehmenden Gefährdung von Personen und Objekten, die mit dem Thema Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte in Verbindung stehen.
Die rechtsextremistischen Akteure
Als „ sehr heterogen“ beschreiben die Verfassungsschützer die rechtsextremistische Szene in Berlin. Die Gruppierungen lassen sich demnach grob in zwei Lager einteilen. Zum Einen bestehen eher traditionelle rechtsextremistische Strukturen mit neonazistischer Orientierung. Dazu zählen die Verfassungsschützer die NPD und das Netzwerk „Freie Kräfte“. Andererseits entwickelten sich fremden- und islamfeindliche Gruppierungen wie die „Bürgerbewegung pro Deutschland“, „Hooligans gegen Salafisten/ Bündnis Deutscher Hooligans“ die „German Defence League“ und die „Identitäre Bewegung“. Zudem sei die neonazistische Partei „Der III. Weg“ seit März 2015 mit einem Stützpunkt in Berlin aktiv. Diese kooperierten zum Teil in Form von Netzwerken oder innerhalb organisatorischer Rahmen miteinander.
Vier Fälle von schwer Brandstiftung
Unter den Straftaten sind auch vier Fälle von schwerer und besonders schwerer Brandstiftung. Betroffen waren die Flüchtlingsunterkünfte in der Salvador-Allende-Straße in Köpenick im April 2014, das Flüchtlingsheim in der Soorstraße in Charlottenburg im Juni 2015, das Containerdorf am Blumberger Damm in Marzahn Hellersdorf im August 2015 und die Unterkunft am Glambecker Ring in Marzahn-Hellersdorf im September 2015.
Die Polizei hat zu den 79 Straftaten 44 Tatverdächtige ermittelt. Davon waren zwölf dem Berliner Verfassungsschutz bereits zum Zeitpunkt der Tat namentlich im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Straftaten bekannt. Doch weder wurde bislang Anklage erhoben, noch ein Urteil gefällt.
Kritik: „Bissfester Rechtsstaat fehlt“
Hier setzt auch die Kritik von Politikern ein. So beklagt der verfassungsschutzpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Tom Schreiber, dass in diesem Zusammenhang ein „bissfester Rechtsstaat fehlt“. Die Zahl der Anklagen und Strafbefehle im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Gewalttaten habe sich in den vergangenen fünf Jahren halbiert, sagt Schreiber. „Die Demokratie muss aber mit aller Härte gegen die vorgehen, die den Rechtsstaat torpedieren“, so der Innenpolitiker. Auch Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher der Grünen, verlangt, „dass die Verfahren schneller geführt werden müssen, damit die Strafe auf dem Fuß folgen kann“.
Hakan Tas, innenpolitischer Sprecher der Linke, fordert, dass die Flüchtlingsunterkünfte besser geschützt werden. Innensenator Frank Henkel (CDU) habe den Flüchtlingsstaatssekretär Dieter Glietsch aufgefordert, ein Sicherheitskonzept für die Unterkünfte vorzulegen, so Tas, „doch das liegt bis heute nicht vor.“ Es könne nicht sein, dass Flüchtlinge, die in Berlin Zuflucht und Schutz suchten, Opfer von Gewalt werden.
Die Zahlen, die der Verfassungsschutz vorlegt, unterscheiden sich kaum von denen, die etwa Stiftungen vorlegen. So zählen die Amadeu-Antonio-Stiftung und Pro Asyl für Berlin im Jahr 2015 insgesamt 36 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Der Verfassungsschutz kommt auf 40 Straftaten in den ersten zehn Monaten des Jahres 2015. Wobei nicht alle klar dem rechtsextremistischen Umfeld zugerechnet werden könnten, heißt es im Lagebild.
Heime schon während des Baus schützen
Bianca Klose; Leiterin der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus, rät deshalb auch, genau hinzuschauen. „Seit Beginn der Mobilisierungen gegen Flüchtlinge beobachten wir mit großer Sorge, dass das rassistische Bedrohungspotenzial in dieser Stadt nicht nur von einer Hand voll bekannter Aktivistinnen ausgeht“, sagt Klose. „Gerade weil wir es mit festsitzenden rassistischen Ressentiments aus der Mitte der Gesellschaft zu tun haben, ist die Gefahr für Flüchtlinge keinesfalls kleiner, sondern diffuser geworden und geht von einem weitaus größeren Personenpotenzial aus.“ Um so wichtiger sei es, klare Grenzen, aber auch die Heime schon während des (Um-) Baus zu schützen wie auch die Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen und dadurch in den Fokus von Neonazis geraten.“
Der Ausblick fürs kommenden Jahr, den die Verfassungsschützer geben, deutet darauf hin, dass sich die Lage nicht beruhigen wird. „Der anstehende Wahlkampf zur Abgeordnetenhauswahl im September 2016, zu der mit NPD und ,Pro Deutschland’ aller Voraussicht nach auch mindestens zwei rechtsextremistische Parteien antreten werden“, heißt es im Lagebild, „lässt zudem befürchten, das Rechtsextremisten auch zukünftig alles unternehmen werden, um mit der Flüchtlingsproblematik Stimmung zu machen und um Unterstützer zu werben.“