Dagmar Schmauks erforscht, wie sich Tastsinn und Handwerk in der Sprache niedergeschlagen haben.
Dagmar Schmauks ist eine Sammlerin. Die Professorin von der Technischen Universität Berlin begrüßt die Fotografin und den Reporter mit einer Auswahl ihrer kleinen Schätze aus Holz. Ein austerförmiges Wurzelstück, eine halbrunde Baumwurzel, die durch Abertausende Spaziergänger flachgetreten wurde. Ein Stück wie ein Tierkopf mit offenem Maul und einem „Auge“ aus einer eingefügten Murmel. Diese Sammlerstücke laden zum Fühlen und Betasten ein.
Dagmar Schmauks hat die Stücke nicht von ungefähr für die Besucher zurechtgelegt. Es passt zu unserem Thema. Zu ihrem Thema. Die Anfangsechzigerin mit der grauen Kurzhaarfrisur „befasst“ sich – im doppelten Sinne – auch beruflich mit dem Fühlen, Tasten, Berühren, Greifen und Hantieren. Aber auf eine ungewöhnliche Weise. Schmauks ist Semiotikerin. Semiotik ist der Teil der Sprachwissenschaften, der Zeichen aller Art erforscht, die eine irgendwie geartete Information tragen: Bilder, Piktogramme, Formeln, Körpersprache, Gaunerzinken, Verkehrszeichen, Tierlaute.
Die Wissenschaftlerin sammelt Begriffe und Metaphern
Selbst der Hund, der am Baum sein Bein hebt, hinterlässt ein Zeichen, eine Information, die gelesen werden kann. „Ah, der grässliche Bullterrier vom Nachbarn war da und die läufige Dackelin aus der Seitenstraße auch“, formuliert die Zeichenforscherin ein fiktives Beispiel dafür, was ein Hund am Baum lesen könnte. Aber natürlich befasst sich die Semiotik auch mit Sprache. Das tut auch Dagmar Schmauks, die an der Arbeitsstelle für Semiotik der TU forscht und lehrt.
Sie ist auch auf diesem Feld eine Sammlerin. Sie sammelt Worte, Beschreibungen und Redewendungen und analysiert, wie sie in neue Umfelder gestellt werden. Sie nennt dieses Vorgehen Wortfeldanalyse. Eine besondere Art von Begriffen hat es ihr in letzter Zeit angetan: eben jene, die mit dem Tasten zu tun haben – mit „Haptik“. Mit Handwerk, Handarbeit, Werkeln, Basteln, Handhaben, Hantieren. Darüber hat sie ein Buch geschrieben. Es handelt davon, wie sich der Tastsinn in unserer Sprache niedergeschlagen hat.
Abstrakte Begriffe und Ideen sollen „begreifbar“ werden
„Sehr viele Redewendungen haben ihren Ursprung in der Handhabung von fassbaren Gegenständen und wurden dann auf abstrakte Dinge übertragen. Da werden beispielsweise Probleme gewälzt oder in den Raum gestellt, in einer Diskussion wird einem der Ball zugeworfen“, nennt Schmauks ein paar Beispiel. Oder man muss etwas auslöffeln, was ein anderer einem eingebrockt hat. Andernorts werden Rettungsschirme aufgespannt und Ausgaben gedeckelt.
Welchen Zweck erfüllen solche Umschreibungen? Ganz einfach: Abstrakte Begriffe wie „Problem“, „Thema“ oder „Ziel“ werden im Wortsinne griffig gemacht. „Solche Wendungen zeigen, wie wir unsere Umwelt begrifflich gliedern, um sie besser zu verstehen“, sagt die Semiotikerin. „Wir möchten sie regelrecht ,begreifen‘, einer kopflastigen Darstellung etwas Handfestes gegenüberstellen. Dabei geben wir der Handarbeit den Vorzug, um Dinge zu verstehen.“
Flicken, stopfen, entwirren: Das Textilhandwerk hat viele Begriffe geprägt
Viele dieser Metaphern stammen aus alten Handwerkskünsten wie dem der Maurer, Schreiner, Klempner oder Dachdecker. Etwa, wenn ein Konzept durch viele Fakten untermauert und auf seine Schlüssigkeit festgeklopft wird. Wenn an einem Text gefeilt oder einem Etat etwas abgezwackt wird. Bohrende Fragen werden gestellt, und wenn man keine Antworten bekommt, wird der verstockt Schweigende vielleicht durch den Wolf gedreht.
„Klassisch ist zum Beispiel die Textilbranche“, sagt die Forscherin. Etwa in Formulierungen wie: Die Handlung eines Buches entwickelt sich entlang eines roten Fadens. Oder über die Assoziation mit einem Wollballen: Einer muss erst einmal die vielen Fakten entwirren, ein anderer knüpft Kontakte. In Berlin wiederum lässt der Senat gerade Gelder bei der Stadtreinigung abfließen, um seine Haushaltslöcher zu stopfen.
Durch die Lappen gehen: Den Ursprung dieser Metapher kennen viele nicht mehr
Aus der Landwirtschaft stammen Assoziationen wie: Er sät Zweifel und streut Gerüchte. Aus der Jagd: Sie hatte treffsichere Argumente und kreiste das Thema (wie ein Beutetier) geschickt ein. In der anschließenden Diskussion hat sie dann aber schnell alle Pfeile verschossen. Dem erfolglosen Banker wiederum gingen etliche Millionen durch die Lappen.
Wissen Sie, was die „Lappen“ bedeuten? Dagmar Schmauks junge Studenten wissen es oft nicht mehr: Einst trieb man Beutetiere vor die Flinten, indem man einen Bereich des Waldes mit bunten, wehenden Stofflappen versah, vor denen das Wild scheute. So lief es entlang des gewünschten, immer enger werdenden Kanals. Manches Tier entkam dem – es ging durch die Lappen.
„Totschlagargument“ und „Rohrkrepierer“ zeugen vom Einfluss des Krieges
Auch aus der Tierhaltung kommen Begriffskombinationen („Phraseme“): Der Lehrer lässt seine Schüler am langen Zügel, aber er spornt ihren Ehrgeiz an. Ihre „Spuren hinterlassen“ (auch das ist Jagdsprache!) haben auch Kampf und Krieg: Der Rivale bei der Karriere wirft einem Knüppel zwischen die Beine. Der Delinquent erhält durch ein richterliches Urteil einen Schuss vor den Bug. Der Politiker nutzt Totschlagargumente, das kommt nicht gut an, und so geht der Schuss nach hinten los – oder der Mensch erleidet einen Rohrkrepierer (das Geschoss explodiert verfrüht im Gewehrlauf oder Kanonenrohr).
Professor Schmauks interessiert, wie handfeste „Ursprungsdomänen“ auf abstrakte „Zieldomänen“ übertragen werden. Es ist ihr auch wichtig, die teils sehr alte Basis dieser Begriffe nicht in die Vergessenheit versinken zu lassen. „Wir leben in einer audiovisuell geprägten Welt. Kino, Fernsehen, die neuen Medien, das Internet prägen uns zunehmend. Der Tastsinn bleibt zunehmend unbeachtet, es entsteht eine Lücke“, kritisiert sie. Das Fühlen mit der Haut und den Händen sei doch einer der fünf klassischen Sinne und ebenfalls wichtig.
Die Forscherin strahlt Enthusiasmus aus
Die Professorin ist natürlich auch ein Augenmensch. Die sehr begrenzte Aussicht durch das Fenster vor ihrem Schreibtisch betrübt sie ein wenig. Hier, im vierten Stock des TU-Hochhauses an der Fraunhofer-Straße, ein paar Schritte vom Ernst-Reuter-Platz entfernt, blickt sie auf Wände, Hinterhöfe und eine Tankstelle. Sie habe schon weit oben im Hochhaus gearbeitet. „Da hatte ich einen herrlichen Ausblick auf ganz Charlottenburg.“
Vom recht begrenzten Platz in ihrem Büro spricht sie nicht. Man erwartet bei einer Professorin ein größeres. Aber an den Universitäten muss wie auch anderswo gespart werden. Dagmar Schmauks erwähnt, dass sie ja auch „nur“ außerplanmäßige Professorin sei. Aber sie beklagt sich nicht. Die Sprachwissenschaftlerin hat schon mit befristeten Verträgen gearbeitet, als Lehrerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin und freiberuflich als Buchautorin. Sie stammt aus Neuss, lebte in München, Berchtesgaden, Salzburg, Saarbrücken. Sie wirkt zufrieden, ist bei unserem Gespräch ganz in ihrem Element, strahlt Enthusiasmus aus, hat Esprit und pflegt eine elegante Sprache, ohne dabei akademisch rüberzukommen.
Luther war ein einfallsreicher Worteschmied
Sie berichtet von den Ursprüngen und Schöpfern der „tastenden Begriffe“. Aber diesen ist meist kein Autor zuzuordnen. Wer erstmals das bildhafte Hantieren mit einem abstrakten Thema verknüpfte, weiß man in der Regel nicht. „Manchmal kann man die Zeit grob eingrenzen“, sagt Dagmar Schmauks. „Gerade bei Verbindungen mit Waffen, da muss man als Sprachforscherin auch mal in die Waffengeschichte eintauchen.“
Allenfalls das Sprachgenie Martin Luther lässt sich als pfiffiger Begriffeschmied identifizieren. Er verfasste Thesen nicht nur einfach, nein, er „legte“ sie schriftlich „nieder“. Wer ihm dumm kam, der musste gewärtig sein, von ihm „angefahren“ zu werden. Und was in die Kritik geriet, das wurde durch ihn zum „Stein des Anstoßes“, über den man sich ärgerte – und stolperte. Auch das bezeichnet – im weiteren Sinne – etwas Haptisches. Luther wollte eben von jedermann verstanden werden – anders als die lateinisch psalmodierenden Geistlichen seiner Zeit mit dem – aus seiner Sicht – Muff von tausend Jahren unter den Soutanen. Also studierte er die Volkssprache oder, wie er selbst sagte, „er schaute dem Volk aufs Maul“.
Schimpfwörter haben ein eigenes Fachgebiet: die „Malediktologie“
Die alten haptisch und handwerklich verknüpften Begriffe bleiben nicht allein, es gesellen sich neue hinzu. Da wird beispielsweise der Jackpot geknackt, der Computer schaufelt Daten von der Festplatte auf den Stick, und wir leiden unter Nervensägen, Phrasendreschern und Dünnbrettbohrern. Mit solchen Wörtern befindet man sich schon im Bereich der „Malediktologie“. Das ist die Lehre von den Schimpfwörtern. Ja, dieses Teilgebiet der Semiotik gibt es tatsächlich.
Auf einer anderen Ebene gewinnt auch der lange vernachlässigte Tastsinn wieder Terrain, beobachtet Dagmar Schmauks: im Design und im Kampf mit der audiovisuellen Welt. „Die Haptik bekommt wieder mehr Gewicht beim Design von Geräten, Werkzeugen, Knöpfen, Griffen und Textilien. Man berücksichtigt wieder mehr, dass künstliche Gegenstände sich angenehm anfassen lassen müssen.“
Werden Bilder miteinander verzwirbelt, wird es komisch
Vor allem Kleidung müsse sich gut anfühlen, müsse schmeicheln und dürfe nicht zu glatt sein. So wie der Produktdesigner dem Auge etwas Angenehmes bieten soll, muss er auch einen angenehmen Klang schaffen, etwa beim Drücken eines Klingelknopfes oder beim Öffnen und Schließen einer Autotür. Und das Produkt muss eben auch ein angenehmes Berührungsgefühl vermitteln.
Das Sprechen in Haptik-Metaphern kann auch seine komischen Seiten haben. „Nur zu leicht verzwirbelt man leichtsinnig mehrere Metaphern“, erklärt Dagmar Schmauks. Dann stimmt das Bild überhaupt nicht mehr, bietet aber immerhin Anlass zum Schmunzeln. Etwa wenn die Rede davon ist, dass ein Projekt „mit heißer Nadel gezimmert“ ist, ein Rettungsschirm aufgestockt wird oder jemand am Bettelstab nagt. Lustig kann auch die Umkehrung sein, wenn ein moderner technischer Begriff auf das Fühlen übertragen wird oder auf das „Fühlorgan“ Haut: Bei älteren Menschen heißt es beispielsweise oft „Der Lack ist ab“.
Spinnen am Morgen: Das ist die Arbeit der Arbeitslosen und Armen
Es gibt kuriose Begriffe und Sprichwörter, deren Ursprung heute kaum einer mehr kennt. Ein Beispiel: „Spinne am morgen bringt Kummer und Sorgen.“ Eigentlich geht es gar nicht um das achtbeinige Tier, sondern um das Spinnen von Garn. Gesponnen wurde einst von vielen nicht hauptberuflich, sondern nebenbei, meist nach dem regulären Tagewerk am Abend. „Wer allerdings schon morgens spinnen konnte oder musste, hatte sonst nichts zu tun, war arbeitslos und ein Habenichts“, erklärt Schmauks, „er hatte also Kummer und Sorgen.“
Ein zweites Beispiel: Werden Personen durchgehechelt, hat das nichts mit Hunden zu tun, sondern mit einer Textilarbeit: „Hecheln bedeutet, wirre Pflanzenfasern parallel auszurichten und sonstige Pflanzenreste zu entfernen“, sagt die Sprachforscherin. Dass das „Durchhecheln“ in einer negativen Weise auf Menschen übertragen wurde, hängt sicherlich mit dem Werkzeug zusammen: ein kammartiges Gerät aus gar nicht angenehmen spitzen Drähten.
Die Sammlerin verschenkt ein Stück aus ihrem Fundus
Dagmar Schmauks versteht sich mit solchen Erläuterungen nicht nur als Sprachwissenschaftlerin. „Diese Arbeit vermittelt auch Geschichtsbotschaften, und Wortfeldarbeit ist auch Kulturforschung.“
Am Ende verschenkt die Sammlerin von Begriffen und Holzpreziosen etwas aus ihrem Fundus. Der Reporter bekommt eine kleine, harte, zerfurchte, aber dennoch angenehm zu ertastende Schwarznuss. Die findet man hierzulande nicht oft.
Buchtipp Dagmar Schmauks: Spitze Bemerkungen und schwammige Argumente. Stauffenburg-Verlag, 242 Seiten, 24,50 Euro.