Bisher ist der Haupttäter der Missbrauchsserie am Berliner Canisius-Kolleg überaus glimpflich davongekommen. Als Ende Januar 2010 herauskam, dass sich Pater Peter R. als Leiter der außerschulischen Jugendarbeit bis Mitte der 80er-Jahre an Dutzenden Schülern vergangen hatte, galten diese Taten laut Staatsanwaltschaft als verjährt.
Neue Recherchen des Westdeutschen Rundfunks (WDR) eröffnen nun jedoch die Möglichkeit, den in Berlin im Ruhestand lebenden Priester eventuell doch noch juristisch zu belangen. Denn Peter R. hat auch sehr viel später noch mindestens ein Kind missbraucht. Das Bistum Hildesheim erfuhr davon und ermittelte intern. Als sie den Fall Ende 2010 der Berliner Staatsanwaltschaft übergab, fehlte jedoch jeglicher Hinweis darauf, dass R. ein Haupttäter des Canisius-Skandals war. So gingen die Ermittler von einem Einzelfall aus und stellten das Verfahren wegen der Übergriffe auf das zur Tatzeit elfjährige Mädchen wegen geringen öffentlichen Interesses gegen eine Geldauflage ein.
Jetzt prüfen die Berliner Strafverfolger, ob die neuen Informationen neue Ermittlungsansätze bieten. So sagte es der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft in dem ARD-Film „Richter Gottes“, der am Montagabend gesendet wurde und sich kritisch mit der internen Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche auseinandersetzt.
Schuldeingeständnis des Rektors löste Missbrauchsskandal aus
Als die Berliner Morgenpost 2010 als erste über das offizielle Schuldeingeständnis des Schulrektors Pater Klaus Mertes berichtete, wonach es zu massenhaften sexuellen Übergriffen am Jesuitengymnasium in Tiergarten gekommen ist, brach der Missbrauchsskandal über die katholische Kirche herein. Neu war, dass erstmals ein führender Vertreter einer Täter-Organisation einräumte, dass die Geschichten und Schilderungen früherer Opfer wahr seien und dass man ihnen glauben müsse. Seitdem hat die Diskussion über Missbrauch eine andere Qualität. Der ARD-Film zeigt nun aber auf, wie sehr die Kirche auch nach diesen Veröffentlichungen bestrebt war, Täter aus ihren Reihen nicht dem staatlichen Rechtswesen zu überlassen, sondern ihre Fälle intern zu behandeln.
Pater R. war nach seiner Zeit am Canisius-Kolleg ins Bistum Hildesheim in Niedersachsen versetzt worden und weiter in der kirchlichen Jugendarbeit tätig. 2010 besuchte ihn ein damals elfjähriges Mädchen – die Enkelin eines befreundeten Ehepaares – in seiner Berliner Wohnung. Am Abend kam es zum sexuellen Übergriff. Dieser ist belegt, in einem internen kirchlichen Prozess wurde R. deswegen zu einer Geldstrafe von 4000 Euro verurteilt. Das Mädchen hatte sich lange niemandem offenbart, wie so häufig bei Missbrauchsopfern. Erst als 2010 nach dem Canisius-Skandal der Haupttäter R. in den Medien präsent war, vertraute es sich sich einer Religionslehrerin an. Sie informierten das Generalvikariat des Hildesheimer Erzbistums.
Dort vernahmen sie das Kind, aber die Großeltern erfuhren nichts davon. Erst als es sich selbst verletzte und in die Psychiatrie eingeliefert wurde, öffnete sich das Mädchen. Die Kirche sah sich gezwungen, die Berliner Staatsanwaltschaft in Kenntnis zu setzen. Eine wesentliche Information über das Vorleben R.s als Täter vom Canisius-Kolleg übermittelten die Kirchenjuristen den weltlichen Ermittlern jedoch nicht. Hätten sie das getan, wäre wohl niemand von einem Einzelfall ausgegangen und R. wäre womöglich strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen worden, denn der Missbrauch an dem Mädchen war 2010 noch nicht verjährt wie die Übergriffe auf die Canisianer.
Aus Sicht der Gruppe Eckiger Tisch, in der sich Opfer aus Jesuitenschulen organisiert haben, hat sich die Kirche mit diesem Umgang mit einem „Serienmissbrauchstäter“ zum wiederholten Male an den Opfern schuldig gemacht. „Das Vorgehen der Kirche empört uns zutiefst“, sagte Sprecher Matthias Katsch. Die Kirche, die Täter schützt und die Opfer alleine lässt. Die Strafverfolgung Peter R.s sei „behindert und schließlich vereitelt worden“. Der Hildesheimer Bischof Norbert Trelle trage dafür die Verantwortung und müsse zurücktreten, so der Eckige Tisch. Die Berliner Staatsanwaltschaft solle nun prüfen, welche Möglichkeiten es gebe, das Verfahren gegen R. im Falle des inzwischen 20 Jahre alten Mädchens aus Hildesheim wieder aufzunehmen.
Vom Urteil des Kirchengerichts gegen R. erfuhr das Opfer nichts
Von der Verurteilung des Täters durchs Berliner Kirchengericht haben weder die Großeltern des Mädchens noch die junge Frau selbst etwas von der Kirche erfahren. Auch eine Anfrage an Mitglieder des Eckigen Tischs, sich als Zeugen in dem Verfahren zur Verfügung zu stellen, wurden seitens der Kirche nicht weiter verfolgt. Ex-Canisius-Schüler Katsch sagt in dem Film, er wäre bereit gewesen, an dem Verfahren mitzuwirken. So aber fand der Prozess gegen Pater R. ohne Zeugen von Seiten der Opfer statt. Eine Entschädigung hat das Mädchen nie erhalten, obwohl es laut Großeltern psychische Probleme und Selbstmordversuche unternommen hatte.
Für den Film hat Autorin Eva Müller auch mit Peter R. gesprochen, allerdings ohne Kamera. Demnach sagte R., er habe das Bußgeld in Raten von 200 Euro abbezahlt. Sonst hätte er ja keine Rente mehr von der Kirche bekommen. So lebe er jetzt ganz gut. Zu den Fällen am Canisius-Kolleg sagte R., er habe die Jungen zur Selbstbefriedigung in seinem Zimmer aufgefordert. Sonst hätten sie das in ihren Zimmern gemacht, das hätte er dann melden müssen. Vielleicht habe es auch mal einen Kuss gegeben. Aber er sei kein Straftäter.
"Richter Gottes", ARD, Montag, 30.11.15, 22.45-23.30 Uhr
Chronik des Skandals
Januar 2010: Die Berliner Morgenpost berichtet als erste über den Missbrauch. Ein Untersuchungsbericht zeigt, dass der Orden sexuelle und körperliche Gewalt gegen Kinder jahrzehntelang vertuscht hatte.
März 2011: Die Deutsche Bischofskonferenz kündigt an, dass die katholische Kirche jedem minderjährigen Opfer bis zu 5000 Euro Entschädigung zahlen und die Therapiekosten übernehmen wird.
Januar 2013: Die Bischöfe und der Kriminologe Christian Pfeiffer beenden wegen eines Streits die Zusammenarbeiet. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Skandals scheitert.
August 2013: Die Deutsche Bischofskonferenz schreibt die Studie zum Missbrauchsskandal neu aus.
Januar 2014: Das Kirchengericht des Erzbistums Berlin verurteilt den Pater Peter R. zum lebenslangen Ausschluss vom Priesterdienst sowie einer Geldstrafe von 4000 Euro.