„Ich weiß zu schätzen, was sie tun“, sagt Bürgermeister Ron Huldai nachdem er seinen Amtskollegen Michael Müller (SPD) im alten Tel Aviver Rathaus am Bialik-Platz begrüßt hat. Während Berlin im Oktobergrau versinkt, ist das Thermometer in der Mittelmeerstadt noch einmal auf 30 Grad geklettert. Deutschland ist weit weg, möchte man meinen. Tatsächlich ist auch hier nicht verborgen geblieben, wie schwer es Berlin zurzeit hat mit der Versorgung der Flüchtlinge. Überhaupt gilt: Was in der deutschen Hauptstadt passiert, ist auch in Israel ein Thema.
Die neue Aufmerksamkeit bekommt Michael Müller auf allen Stationen seiner Nahost-Reise zu spüren. Seit Sonnabend ist der Regierende Bürgermeister in Israel zu Gast, besucht Tel Aviv, Jerusalem und zum Abschluss am heutigen Dienstag Ramallah. Geplant ist dann auch ein Treffen mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas.
Es sollte hier eigentlich gar nicht um Sicherheit gehen
Die vierte Auslandsreise seiner Amtszeit wird seit einem halben Jahr in der Senatsverwaltung geplant und fällt nun ausgerechnet in eine Zeit, in der Israel die schlimmste Terrorwelle seit Jahren erlebt. „Es kann zu weiteren Angriffen und Anschlägen oder gewalttätigen Auseinandersetzungen in Jerusalem, an Checkpoints, im Umfeld von Flüchtlingslagern und in den größeren Städten des Westjordanlands kommen“, warnt das Auswärtige Amt auf seiner Website. An die Maßgaben der Diplomaten muss sich auch die Reisegruppe halten. Dabei sollte es hier eigentlich gar nicht um Sicherheit, sondern vor allem um Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur gehen.
Was denn abgesehen von der Terrorgefahr die größten Probleme seiner Stadt seien, fragt Müller seinen Tel Aviver Amtskollegen. „Der Verkehr und der Immobilienmarkt“, sagt Huldai, „dabei können wir viel von Berlin lernen“.
Nahverkehr und öffentlicher Wohnungsbau sind Themen, bei denen sich der ehemalige Stadtentwicklungssenator auskennt. Berlin ist für Huldai und viele andere Israelis, besonders im liberalen Tel Aviv, die längst so etwas wie eine inoffizielle Partnerstadt geworden ist, ein Vorbild. Nicht erst seit der sogenannten Milky-Debatte, dem öffentlichen Streit, der vor zwei Jahren über die Frage ausgetragen wurde, ob man wegen der günstigen Lebenshaltungskosten Israel verlassen und ausgerechnet an die Spree ziehen dürfe. Rund 20.000 Israelis leben mittlerweile in Berlin.
Aber die Stadt glänzt in Israel nicht nur als Metropole, in der man günstig leben kann, sondern auch als Wirtschaftsstandort. „Als wir vor ein paar Jahren hierher gekommen sind, haben wir vor allem für Velotaxi und die öffentlichen Toiletten von Wall geworben. Das ist jetzt anders“, sagt Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages.
Er führt die Begleitdelegation des Regierenden an: 28 Unternehmer, hauptsächlich aus dem Hightech-Bereich, außerdem Vertreter von Forschungseinrichtungen und Verbänden, die in Israel neue Kooperationen unterzeichnen und Kontakte knüpfen sollen, etwa zwischen der Freien Universität und der Hebräischen Universität in Jerusalem. Auch der Berliner Zoo, der sich seit kurzem mit seiner NS-Vergangenheit auseinandersetzt, wird nun eine neue israelische Doktorandenstelle bezahlen.
Um konkrete Geschäftsbeziehungen geht es bei der Konferenz „Berlin Israel“, die Müller am Sonntagmorgen im Tel Aviver Hotel „Dan Panorama“ eröffnet. „Die beiden Städte passen einfach gut zusammen“, sagt Grisha Alroi-Arloser, der Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Handelskammer ist: „Israelische Chuzpe und Berliner Schnauze.“
In diesem Sinne ganz untypisch für Berlin tritt Michael Müller auf: Abwartend und zuhörend. Kurze Fragen stellt er auf Englisch, wenn es kompliziert wird, kommt ihm die Dolmetscherin zur Hilfe.
Nach der Wirtschaftskonferenz besucht er am Sonntag die Bialik-Rogozin-Schule im Süden Tel Avivs. Hier werden 1200 Schüler aus 51 verschiedenen Nationen unterrichtet. Die zentrale Integrationseinrichtung ist das Vorzeigeprojekt von Ron Huldai. „Hi, I’m Michael“ stellt sich der Regierende vor und überreicht nach einer 20-minütigen Visite mit abschließender Tanzvorführung als Gastgeschenk Berliner Buddy-Bären.
Wäre eine Integrationszentrale ein Vorbild für Berlin? „Wir machen es ja bewusst anders: Integration in den Quartieren, Deutsche und Migranten gemischt“, antwortet Müller.
Am Sonntagnachmittag bekommt der Regierende Gelegenheit, Staatspräsident Reuven Rivlin in dessen Residenz zu treffen. Es geht um Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Dass der Termin zustande gekommen ist, sei auch ein Zeichen der Dankbarkeit, weil Müller trotz Terrorgefahr gekommen ist.
Am Abend spricht er als Festredner bei der Gala der deutschen Botschaft zur Feier von 25 Jahren Deutscher Einheit: „Dass Israel uns die Hand gereicht hat zur Versöhnung, erfüllt uns mit großer Dankbarkeit.“ Selbst 50 Jahre nach dem Beginn der diplomatischen Beziehungen tritt er hier auch als Vertreter der Stadt auf, in der der Massenmord an den europäischen Juden geplant wurde. „Dieses Bewusstsein ist immer da, allerdings natürlich auch zu Hause in Berlin.“ Im Gästebuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hinterlässt Müller am nächsten Tag nur einen Satz: „Wir verneigen uns vor den Opfern der Shoah.“
In der Ausstellung hatte er zuvor vom Beginn der NS-Herrschaft, den Kriegsbeginn bis hin zur Vernichtung alle Kapitel des Völkermords erlebt. „Sie haben das sehr eindrucksvoll gemacht, und trotz allem auch sehr lebendig“, lobt Müller seinen Guide Jonathan, der sich am Anfang als großer Berlin-Fan bekannt hatte. Trotz der ständigen Beschäftigung mit der Geschichte.
„Eine neue Runde der Gewalt – aber auch das geht vorbei.“
Während Müller und sein Jerusalemer Amtskollege Nir Barkat am Montagmittag im Restaurant La Boca bei gegrilltem Lachs und Entrecote weitere Start-up-Kooperationen besprechen, werden wenige Kilometer entfernt wieder Menschen mit Messern attackiert. In der Siedlung Pisgat Ze’ev verletzt ein Angreifer drei Israelis. Ein 13-jähriger Junge schwebte am gestrigen Abend noch in Lebensgefahr. Vor dem Polizeihauptquartier kann ein Beamter eine Attacke abwehren. Am Löwentor in der Altstadt wurde schon am Morgen ein Terrorist nach einer Messerattacke erschossen. Der Polizeichef beordert 2000 zusätzliche Beamte in die Hauptstadt.
„Ach, wir leben doch damit“, kommentiert einer der beiden Sicherheitsmänner von Barkat die Lage. Das sei nicht schlimm, außerdem habe man diesen Angreifer ja sofort mit einem Kopfschuss getötet.
Vor vier Tagen erst hatte der Bürgermeister die Bewohner seiner Stadt aufgefordert, sich mit ihren eigenen Schusswaffen zu verteidigen, jetzt erklärt er: „Wir sind das hier gewohnt, das ist jetzt eine neue Runde der Gewalt, aber auch die geht vorbei.“ Tatsächlich, so behauptet er, sei Jerusalem sogar sicherer als Berlin, wenn man nach der Mordquote pro Kopf urteilen würde.
Dass sein Kollege aus Berlin wegen der Eskalation auf einen Besuch der Altstadt verzichtet, kann er nicht verstehen: „Ich gebe ihnen meine Garantie und ich kann ihnen auch gerne meine Sicherheitsleute mitgeben.“ Müller verzichtet. Er ist zudem mit eigenen Sicherheitsbeamten unterwegs.
Eine Ausstellung mit Kunstwerken aus der Neuen Nationalgalerie
Statt zur Klagemauer bricht die Delegation dann auf zum Israel-Museum. Den Weg vom Bus zum Eingang läuft Michael Müller zum ersten Mal an diesem Tag ohne Sakko. Anlass des Besuchs ist die Ausstellung „Twilight over Berlin“, die am 20. Oktober mit Werken aus dem Fundus der Berliner Nationalgalerie eröffnet wird.
Im Saal weisen Fotokopien aus, wo die Bilder gehängt werden sollen. Noch stehen sie an die Wände gelehnt: George Grosz’ „Die Stützen der Gesellschaft“, Max Pechsteins „Sitzendes Mädchen“, das gerade noch das Plakat der Berliner Ausstellung „ImEx“ geschmückt hat und Christian Schaads „Sonja“ sind drei der Moderne-Meisterwerke, die zum Anlass des Jubiläumsjahres gezeigt und nun in einer Art Sneak-Preview vom Regierenden Bürgermeister besichtigt werden.
„Ich finde es bemerkenswert, dass wir nun hier, also ausgerechnet in Israel, Bilder präsentieren können, die bei den Nazis als entartet verfemt wurden“, sagt Kuratorin Adina Kamien-Kazhdan. Kultur soll in Form eines Konzertes junger Künstler auch am heutigen Dienstag eine Rolle spielen. Dann allerdings in gänzlich anderem Umfeld. Michael Müller und seine Delegation besuchen die Palästinensischen Gebiete.