Die Zwillinge Bruno und Günther Becker haben 1962 einen der ersten Tunnel von der DDR in den Westen gegraben. Der RBB stellt jetzt die spektakuläre Massenflucht nach

Wie ein Maulwurf reckt Bruno Becker den Kopf aus dem Loch im Boden, stützt sich mit den Händen auf dem feuchten Grund ab und sieht sich um. Ein Waldstück in Glienicke, im Norden von Berlin, die Mücken surren um den 73-Jährigen, der bis zum Bauchnabel im Boden steckt. Vor 53 Jahren, ist er hier schon einmal aus dem Erdreich gestiegen. Hinter ihm lagen damals ein 30 Meter langer Tunnel, neun Tage Arbeit unter Tage und ein Land, in dem er nicht mehr gefangen sein wollte. Vor ihm erhob sich ein Wald in Frohnau, die Dämmerung eines neuen Tages und die Freiheit.

„Die Schmerzen in den Knien sind die gleichen wie damals“, sagt Bruno Becker, lacht und greift die Hand seines Zwillingsbruders Günther, der ihn mühsam aus dem Loch zieht. Am 24. Januar 1962 war das andersherum. Bruno war der erste der Brüder, der westlichen Boden betrat und seiner Mutter, seiner Schwester und seiner Freundin Elke aus dem Tunnel half. Die Mutter, mit den Nerven völlig am Ende, kletterte aus dem Schacht, sah die Grenze, dachte, sie sei noch in der DDR und fiel vor Schreck in Ohnmacht. Dass sie vom Westen aus auf die Absperrung blickte und gerade ein paar Meter tief unter der Grenze durchgekrochen ist, versteht sie erst später. Heute sind diese Strapazen lange vorbei, die Zwillinge steigen in Glienicke diesmal nur für ein Foto zurück in den Tunnel. Eine Produktionsfirma drehte kürzlich für den RBB am Originalschauplatz eine Dokumentation über die spektakuläre Flucht der Familie Becker. Dafür hat das Team auf einer Wiese in Glienicke einen Tunnel gegraben, der die gleichen Maße hat, wie das Original von damals, das die Becker-Zwillinge gegraben haben: 60 Zentimeter breit und 1,20 Meter hoch.

75 Fluchttunnel aus der DDR sind seit 1961 dokumentiert, die meisten von ihnen verliefen erstaunlicherweise von West nach Ost, doch nur ein Drittel der unterirdischen Fluchtversuche war erfolgreich. Etwa 350 Menschen gelangten auf diesem Weg in die Freiheit.

Im Keller des Becker-Hauses in der Oranienburger Chaussee, wo alles begann und wo Bruno Becker vor gut einem halben Jahrhundert das erste Mal den Spaten in den Boden rammte, kann das Filmteam heute nicht mehr drehen. Das Zuhause der Familie haben die Behörden nur einen Monat nach der unerlaubten Ausreise der Beckers abgerissen. Es stand zu gefährlich, nämlich direkt an der damals frisch gezogenen Grenze, und sollte keinen weiteren Staatsfeinden die Flucht ermöglichen.

Weil die Staatssicherheit die Gefahr ahnte, sollten die Beckers am 1. Februar 1962 umgesiedelt werden. Die Familie kannte das Datum damals nicht und floh instinktiv im letzten Moment. Monate zuvor waren Drohungen, Einschüchterungen und die Überwachung durch die Stasi immer unerträglicher geworden. „Wir wollten in Freiheit leben“, sagt Bruno Becker heute.

Mitte Januar melden er und sein Bruder sich in ihren Betrieben krank. Drei Tage lang stemmen sie die Kellermauer auf, dann stehen sie vor märkischem Sand. Die jungen Männer kommen schnell voran, graben von morgens bis abends, eine Stunde lang Bruno, die nächste Stunde Günther, immer im Wechsel. Anfangs entsorgen sie die Erde im Brunnen im Garten, doch das ist gefährlich. Die Volkspolizisten patrouillieren regelmäßig vor dem Haus. Also häufen die Männer den Sand, den sie mit Spaten, Schippe und einer Fleischmulde abtragen, im Keller auf. Und während ihre Brüder graben, steht Schwester Gerda am Fenster Schmiere. Über ein Lichtsignal, das sie in den stündlich wachsenden Schacht gelegt haben, warnt sie die zwei jungen Männer, wenn die Grenzer in Sicht sind. Dann halten die Brüder inne, kein Geräusch darf aus dem Boden an die Oberfläche dringen.

Verhöre, Haft, Folter – was ihnen droht, wenn die Volkspolizei sie erwischt, darüber denken die Brüder nicht nach. „Wir haben das alles verdrängt“, sagt Bruno Becker heute. „Es war für uns wie ein großes Abenteuer.“ Das Abenteuer droht zu scheitern, als Bruno im Tunnel unter der Oranienburger Chaussee gegen einen Stützpfeiler stößt. Oben kracht der Stacheldraht ein, unten geraten die Zwillinge in Panik. Bruno Becker stemmt sich mit dem Rücken gegen den Pfeiler, während Günther Becker eine Stütze holt. „Das war der kritischste Punkt“, sagt Bruno Becker. Aufgeflogen sind die Tunnelgräber nicht. Später haben sie die Grenzer rufen hören: „Die Westberliner haben wieder Steine gegen unseren Zaun geworfen.“

Nach ein paar Tagen stehen die Nachbarn, Familie Thomas, bei den Beckers im Keller. Sie wollen mit in den Westen. Doch weil der Tunnel knapp bemessen, die beiden Rentner aber stämmig gebaut sind, gibt es für sie kein Durchkommen. Das Ehepaar Thomas muss zurückbleiben. Ein paar Monate später sollten sie einen eigenen Tunnel graben, durch den zwölf Menschen entkommen. Er wurde als „Rentner-Tunnel“ bekannt. In der Nacht auf den 24. Januar 1962 ist es dann bei den Beckers soweit. Bis in den frühen Morgen graben die Brüder ohne Unterlass. „Wir haben dann unsere Kleidung verkehrt herum angezogen, damit sie im Tunnel nicht schmutzig wird. Wir konnten ja sonst nichts mitnehmen“, erzählt Elke Becker, als sie den nachgestellten Tunnel für die Dreharbeiten in Glienicke begutachtet.

Als Bruno Becker das letzte Mal in die Küche zurückkommt, um die Familie durch den Tunnel zu schicken, traut er seinen Augen nicht. 28 Menschen, bereit zur Flucht, hatten sich bei den Beckers versammelt. „Das war der einzige Moment, in dem ich Angst hatte“, sagt der 73-Jährige. Er wusste, seine Schwester hatte sich bei ihrer Arbeit beim Friseur verplappert, so dass sie außer der eigenen Familie nun auch noch die Haarschneider mitnehmen müssen. Doch woher die anderen Menschen kamen, ist ihm bis heute schleierhaft. „Ich vermute, es hat sich herumgesprochen und ein Schlepper in Hohen Neuendorf hat Geld genommen und die Leute zu uns geschickt.“

Alle 28 Menschen schaffen es in den frühen Morgenstunden dieser Januarnacht im Jahr 1962 in die Freiheit,­ mehr als bei jeder anderen Tunnelflucht zuvor. Sobald die fremden Begleiter in Frohnau aus dem Boden gestiegen sind, zerstreuen sie sich in alle Himmelsrichtungen. Bis heute weiß Bruno Becker nicht, wer da mit ihm noch in die Freiheit gekrochen ist. Die West-Polizei bringt die Flüchtlinge ins Auffanglager Marienfelde. Dort wird Bruno Becker ein paar Tage später für zwei Deutsche Mark einen Raum mieten, um seine Elke zu heiraten.

Das „Abenteuer“ der Beckers wurde noch im gleichen Jahr in dem US-Film „Tunnel 28“ mit Christine Kaufmann verfilmt. Anlässlich der Doku im RBB zum 26. Jahrestag des Mauerfalls im November, und um Bruder Günther wiederzusehen, kommen Bruno und Elke Becker aus Dortmund nach Berlin zurück. Und reisen danach aber auch gerne wieder in ihre Heimat, in den Westen.

„Fluchtpunkt Entenschnabel – Die Tunnelbauer von Glienicke-Nordbahn“ läuft am 9. November, 20.15 Uhr im RBB