Karin Kalisa über ihren Debütroman: „Ich wollte etwas über die Menschen schreiben, die aus dem Latte-Macchiato-Mythos rausfallen.“

In Prenzlauer Berg ist so einiges anders. Die Bürgersteige sind dort breiter, also kann man kurzerhand eine Außenterrasse eines total überfüllten Cafés daraus machen und drei Kinderwagen nebeneinanderparken und trotzdem gibt es noch genug Platz, dass ein Rad mit einem dieser klobigen Anhänger, gefertigt in Christiania, bequem vorbeiradeln kann. Hier fährt natürlich kein anständiges Rad auf der Straße, da ist ja schon das Kopfsteinpflaster.

Die Menschen hier, das kann man überall nachlesen, machen was mit Medien oder was mit Geld, sie haben von ihren Eltern aus Süddeutschland vorab geerbt, und ihre Kinder heißen nach preußischem Adel oder schwedischen Kinderbüchern. Und wer nichts mit Geld oder Medien macht, das sind dann meist Frauen, der gründet einen Laden mit undurchsichtigen Öffnungszeiten und verkauft irgendwas selbst gebasteltes oder selbst designtes, das es nur in kleiner Stückzahl gibt.

All das aber sind die Nebeneffekte des Geheimnisses dieser heiß diskutierten Gegend im Nordosten Berlins: Die Menschen aus Köln und Stuttgart und Hamburg sind mal hergekommen, weil man hier freier sein kann. „Weil man hier eine Sitzgruppe in der U-Bahn transportieren konnte, ohne dumm angequatscht zu werden.

Weil man als Untervermieter des Untervermieters noch mal untervermieten konnte, ohne dass irgendwer sich darum scherte, weil man Löcher durch die Flurdielen dreier Stockwerke bohren und Telefonkabel durchfädeln konnte, ohne dass am nächsten Tag der Hausmeister auf der Matte stand.“ So schreibt es Karin Kalisa in ihrem Debütroman, der in diesen Tagen im C. H. Beck Verlag erscheint.

Vietnamnesen hinter den Ladenkassen

Karin Kalisa sitzt auf einem zum Café umfunktionierten Bürgersteig mitten im Bötzow-Kiez und sieht sehr zufrieden aus mit dieser Gegend, von der sie allerdings in ihrem Roman schreibt, dass deren „anarchische Seele ein bisschen Fett angesetzt hatte mit den Jahren“. In der Tat ist in der jüngsten Zeit immer mehr vom Spätzle-Krieg, Schrippen-Streit und der Gentrifizierung zu hören, wenn man über den Prenzlauer Berg spricht. Aber genau diese Tendenz treibt die Autorin ihrem Viertel in ihrem Buch „Sungs Laden“ aus.

„Als ich Ende der Neunziger in den Osten Berlin zog, da musste ich mich erst mal umstellen“, erzählt sie. „In Hamburg wurden diese Läden, die völlig problemlos die tägliche Nahversorgung ermöglichten, von Türken betrieben. Hier standen auf einmal Vietnamesen hinter der Kasse.“ Sie fragte ihre Freunde, warum das so sei, aber keiner konnte es ihr sagen. Die Neugier blieb, aber doch erst viele Jahre später, als ihre Kinder dann in der Grundschule neben Kindern saßen, die Nguyen und Tran mit Nachnamen hießen, begann Karin Kalisa die Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter in der DDR zu recherchieren.

Junge Männer und Frauen aus Vietnam waren seit den 70er-Jahren bis zum Fall der Mauer die größte Gruppe der Vertragsarbeiter aus „kommunistischen Bruderstaaten“. Doch dass sie in der DDR auch lebten und nicht nur arbeiteten, war nicht erwünscht. Die Vietnamesen wohnten meist in abgeschotteten Wohnheimen, arbeiteten viel. Wer sie nicht da haben wollte, und das waren einige, nannte sie „Fidschis“. Erwartete eine Frau ein Kind, musste sie es abtreiben, oder nach Vietnam zurückkehren. An Sprachkurse oder gar Integrationskurse war nicht zu denken. Und doch waren die Vietnamesen bis zum Fall der Mauer die größte aller Vertragsarbeitergruppen.

„Überwiegend reibungslos integriert“

Seitdem ist viel geschehen - wer einen Vietnamesen auf der Straße sieht, erwartet längst nicht mehr, dass der ihm ein blinkendes Feuerzeug und billige Zigaretten andrehen will. Gerade in Prenzlauer Berg betreibt die zweite und dritte Generation der einst aus Vietnam Gekommenen so viele Gemüseläden und Restaurants, dass ohne sie die Nahversorgung zusammenbrechen würde. Rund 20.000 Menschen vietnamesischer Herkunft leben heute in Berlin. Eine Studie attestierte ihnen, sie seien „überwiegend reibungslos integriert“. Aber ein wenig dieser ursprünglichen Zurückhaltung ist vielen auch in der jüngeren Generation in Berlin bis heute geblieben.

In ihrem Buch erzählt Karin Kalisa gegen diese Trennung an. Sie erfindet eine Familie, die wie so viele vereinzelt als Arbeiter nach Deutschland kam. Gam und Hien, die ein erstes Kind verlieren und ein zweites behalten. Die einen gemeinsamen Laden eröffnen, der alles führt und immer offen hat, den später ihr Sohn übernimmt und in dem ihr Enkel Minh großwerden wird.

Karin Kalisa sieht man ihr Interesse am Fernöstlichen an. Zu ihrem Kleid hat sie sich einen Schal um eine Schulter gewunden, wie man es oft bei asiatischen Frauen sieht. „Sungs Laden“ ist ihr erster Roman. Eigentlich arbeitet sie als Wissenschaftlerin, mit dem Schwerpunkt Japan. Doch mit Fakten und Feldstudien hat ihr Buch nichts zu tun. Ihre Geschichte beginnt in der Wirklichkeit, endet aber in einer Utopie, in der sie Fernost in den Osten versetzt.

In Kalisas Erzählung kommen sich die Kulturen näher

Die Grundschule von Minh nämlich beschließt eines Tages einen „weltoffenen Tag“. Kinder, deren Eltern oder Großeltern aus anderen Teilen der Welt nach Deutschland kamen, sollen etwas aus dieser Welt mitbringen und erklären. Aber es darf nichts zu essen sein. Sung, den seine Mutter eigentlich anders nannte, was die Hebamme aber als „Sung“ hörte, ist überfordert und schickt seinen Sohn zur Großmutter. Und Hien hat eine Idee.

Und in Prenzlauer Berg wird so einiges anders durch Hiens Idee. Ihr Auftritt in der Aula, in der sie eine fast hundertjährige Puppe vom Krieg im Vietnam und dem Wunsch nach Frieden erzählen lässt, wird diese kleine, freie Ecke in der Welt verändern. Wie das geschieht, erzählt Kalisa mit einer fast träumerischen Stimme, die manchmal ins Pathetische kippt und dann doch wieder mit einer leichten Ironie aufgefangen wird.

Durch Hiens Idee nämlich kommen sich die Ureinwohner des Prenzlauer Bergs endlich näher. Sie entdecken die vietnamesische Kultur für sich. Lernen die Sprache. Die Nachfolger der Eingewanderten, deren Eltern ihnen die Integration leichter machen wollten und ihnen deswegen kein Vietnamesisch beibringen wollten, genau wie die Ost-Berliner. Ein Trend übrigens, der nicht nur Teil von Kalisas Imagination ist. Tatsächlich kann man heute in manchen Schulen im Osten Viet­namesisch belegen.

Der Latte-Macchiato-Mythos

„Ich wollte etwas über die Menschen schreiben, die aus dem Latte-Macchiato-Mythos rausfallen“, sagt Kalisa. „Die machen so viel von dem Leben hier aus.“ Und auch wenn ihre Familie frei erfunden ist, so glaubten doch einige von Kalisas ersten Lesern das Geschäft der Familie Tran sofort erkannt zu haben: „Genau der Laden ist bei mir unten im Haus“, haben sie ihr gesagt. Es scheint also viele Ecken in Prenzlauer Berg zu geben, die Potenzial zu so einem Laden haben.

Aber „Sungs Laden“ ist ein Märchen. Eines, das eben besonders gut passt zu dieser Ecke Berlins, an der so vieles ein bisschen anders ist, weil die meisten Menschen, die hierhin gezogen sind, gern ein bisschen freier sein wollten. Der Prenzlauer Berg erlebt eine neue Phase genau dieser Anarchie, die sie mal so berühmt gemacht hat.

So wie Hiens Idee wird auch dieses Buch etwas verändern. Und wenn es nur der Blick seiner Leser ist, wenn sie das nächste Mal ein Bun Bo bestellen oder eine Pho Ga und sie verstehen, wie sehr jetzt schon ein Stück Vietnam zu ihrem Alltag gehört.

„Sungs Laden“ von Karin Kalisa ist am 14. Juli erschienen, C. H. Beck Verlag, 256 Seiten, 19,95 Euro