Neben dem pechschwarzen Abgrund hat es sich Faustus Kühnel gemütlich gemacht, im wackeligen Gebälk direkt unter der Kirchturmspitze, 75 Meter über Berlin.
Auf ein paar schmalen Holzplanken stehen dort oben zwei Server, ein Bildschirm, Tastatur und ein Aschenbecher. Die Lichterkette an der Wand leuchtet den Verschlag spärlich aus. Eine Handbreit neben Kühnels Sitzplatz führt eine dürre, rostzerfressene Leiter hinab in den Schlund des Turms und verliert sich in der Dunkelheit.
Über ihm zeigt eine Dachluke den Weg nach draußen, auf die Spitze. Als er sie öffnet, dringt weißes Licht ins Innere. Auf dem zugigen Kirchturmdach hängen fünf Antennen, die aussehen wie Satellitenschüsseln. „Von hier aus funken wir über Prenzlauer Berg.“ Eine Antenne ist verbunden mit dem Turm der Emmaus-Kirche, eine mit der Beuth Hochschule für Technik Berlin und eine blickt nach Pankow.
Einwahl ohne Anmeldung
Die Spitze der Segenskirche in Prenzlauer Berg ist ein zentraler Knotenpunkt für das drahtlose Netz, das Kühne und seine Kollegen von „Freifunk Berlin“ aufbauen. Die Freifunker tüfteln seit mehr als zehn Jahren an einer Art berlinweitem Intranet, auf dem Bürger Daten austauschen, Spiele ausprobieren und Katzenvideos anschauen können. Hunderte Antennen in Berlin verbreiten die Funksignale durch die Luft und leiten sie weiter auf die Straßen, in die Cafés und Wohnungen der Hauptstadt.
Viele Freifunker geben auch ihren privaten DSL-Zugang über das Netz frei – so ist Freifunk indirekt zum wichtigsten, kostenlosen Wlan-Anbieter Berlins geworden. Einwählen kann man sich ohne Anmeldung überall, wo das Handy oder der Laptop einen der mehr als
350 Freifunk-Hotspots findet.
Damit haben die Freifunker ein autarkes Netz geschaffen, das unabhängig vom Internet Berliner miteinander verbindet – und mit dem Internet. Oft wird das Freifunknetz deshalb als kostenloses Wlan für alle missverstanden, es ist aber viel mehr. Ein dezentrales, demokratisches Netz in Berlin, das an die anarchischen Frühzeiten des World Wide Webs erinnert: Ohne Massenüberwachung, ohne kommerzielle Einflüsse großer Provider, ohne einen zentralen Knoten, auf den alles zuläuft. Es schwingt viel Idealismus mit, wenn Freifunker über ihr Netz und ihre Visionen reden. Obwohl es nicht ihr Netz ist. Denn jeder kann Freifunker werden – und somit gehört das Netz auch allen.
„Hey, vielen Dank für das Internet“
Philipp Borgers tritt mit seinem Jutebeutel am Gittertor vorbei auf das Gelände einer Neuköllner Flüchtlingsunterkunft, als sofort zwei Securitymänner auf ihn zuschreiten. Was er hier wolle, fragen sie und beäugen ihn misstrauisch. Sie kennen ihn noch nicht. Viele andere schon. „Hey, vielen Dank für das Internet“, ruft kurz darauf ein Mitarbeiter im Flur der Unterkunft mit gerecktem Daumen. Borgers zuckt lächelnd mit den Schultern. In dem provisorischen Gebäude, das früher als Schule genutzt wurde, wohnen gegenwärtig 100 Flüchtlinge, aufgeteilt auf sieben Klassenzimmer.
Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) fordert von den Betreibern solcher Notunterkünfte, „Wlan und mobile Endgeräte“ bereitzustellen. Gerade bei kurzfristig errichteten Unterkünften wie am Mariendorfer Weg können die Betreiber den Forderungen jedoch oft nicht nachkommen.
Deshalb hat sich Borgers entschieden einzuschreiten. Im Februar kam er mit einer Antenne, Kabeln und Router unterm Arm in die Unterkunft. Zwei Stunden später war sie an das Freifunknetz angeschlossen – und somit ans Internet. Gezahlt hat der Student das Equipment aus eigener Tasche. „Das waren knapp 150 Euro. Aber dafür hat man am Ende Menschen geholfen.“ Er zuckt lächelnd mit den Schultern.
Unsichere Rechtslage
Berlin ist eine Wlan-Wüste. Wie in ganz Deutschland ist öffentlicher Wi-Fi-Zugang rar gesät, anders als in vielen anderen Ländern der Europäischen Union. Das liegt vor allem an der unsicheren Rechtslage. Wer seinen Internetzugang öffentlich macht, haftet für eventuelle Straftaten Dritter. Das sei, als würde man das Straßenbauamt verklagen, wenn es einen Unfall auf der Autobahn gebe, heißt es unter Freifunkern.
Bisher behelfen sie sich, indem sie den Traffic umständlich über einen eigens dafür gegründeten Verein schleusen, der als Internetanbieter registriert und somit von der sogenannten Störerhaftung ausgeschlossen ist. Der neue Gesetzesentwurf der Bundesregierung zu dieser Störerhaftung wird nach Aussagen der Freifunker das Problem aber nicht beheben, sondern eher verschlimmern. Damit werde öffentlicher Internetzugang noch seltener in Berlin, prognostizieren sie.
Philipp Borgers, der seine langen Haare zu einem Zopf bindet, investiert einen Großteil seiner Freizeit darin, dieses seltene Gut zu jenen zu bringen, die es dringend benötigen. Seit zwei Jahren ist er engagierter Freifunker. Vergangenes Jahr wurde er zum Aktivisten.
Die Gerhart-Hauptmann-Schule an der Ohlauer Straße in Kreuzberg, die seit 2012 von Flüchtlingen besetzt ist, hatte extreme Probleme mit ihrer langsamen Internetverbindung. Also wendeten sich die Bewohner an die Freifunker. „Für uns als Nerds war es klar: Jeder braucht Internet.“ Seitdem ist die Schule an das Freifunknetz angeschlossen. „Ich habe dort das erste Mal gesehen, dass es den Menschen wirklich wichtig ist. Die Flüchtlinge waren extrem glücklich.“
Es war die erste einer Reihe von Flüchtlingsunterkünften, in die er Bits und Bytes gebracht hat. In dem Heim in Neukölln sitzen in einem hellgrünen Speisesaal, der eigentlich ein Klassenzimmer ist, vier Männer stumm um einen Tisch. Die Smartphones im Anschlag, die Köpfe gesenkt. Über ihnen hängt der Router und flackert. Die Männer schauen Videos, chatten im Internet oder lesen.
Das Internet ist nicht nur ein Kanal, um in die Heimat zu skypen. Es ist auch willkommene Abwechslung zum tristen Flüchtlingsalltag. „Ich bin den ganzen Tag hier, habe nichts zu tun“, sagt Valmir aus dem Kosovo. Er sucht einen Job. Oder ein Ausbildungsplatz. Oder wenigstens ein Praktikum. Sonst droht ihm die baldige Abschiebung. Auch da kann das Internet helfen – wenn er sein Deutsch verbessert. Philipp Borgers fischt deshalb aus seinem Jutebeutel mehrere Wörterbücher heraus, die er am Morgen in einem Secondhandbuchladen gekauft hat. Deutsch-Englisch und ein paar Grammatikheftchen. Er breitet sie auf dem Tisch aus. Die Männer blicken von ihren Smartphones auf. „Vielleicht könnt ihr ja etwas damit anfangen“, meint er und zuckt wieder mit den Schultern.
Kein superschnelles Internet
In Prenzlauer Berg zittert die dürre, eiskalte Leiter, als Faustus Kühnel vom Turmdach wieder hinabklettert. In letzter Zeit war er oft hier oben, den neuen Server konfigurieren. Er wohnt nahe der Segenskirche, eine Antenne zielt von der Turmspitze direkt auf sein Haus. „Ich habe meinen Internetanschluss freigegeben. Auch über mich sind manchmal bis zu 40 Flüchtlinge im Internet. Dann kann es schon mal langsam werden.“
Das Freifunknetz ist aber auch vielmehr als Grundversorgung denn als superschnelles Internet für jeden zu verstehen. Eine Grundversorgung, die nicht gegeben ist. Und die der Staat eigentlich ermöglichen, nicht durch Gesetze verhindern sollte.