Wolfgang Wieland war Gründungsmitglied der Alternativen Liste in Berlin - und an der Aufarbeitung der pädosexuellen Vergangenheit der Grünen beteiligt. Im Interview sagt er: „Wir waren dumm und naiv“.

Wolfgang Wieland, 67, war 1978 Gründungsmitglied der Alternativen Liste in Berlin und saß für die Partei im Abgeordnetenhaus sowie im Bundestag. Er ist Mitglied der Kommission zur Aufarbeitung der pädosexuellen Vergangenheit.

Berliner Morgenpost: Herr Wieland, die Kommission zur Aufarbeitung von Pädophilie und sexueller Gewalt bei den Grünen hat nach einem Jahr einen Zwischenbericht vorgelegt. Wie bewerten sie das Ergebnis?

Wolfgang Wieland: Die Arbeit der Kommission war sehr erfolgreich. Der Bericht ist schonungslos und zeigt die tiefe Verstrickung der Alternativen Liste und später der Grünen in pädosexuelle Netzwerke. Er zeigt auch, dass die Arbeitsgemeinschaft der Schwulen bei den Grünen teilweise unterwandert war von Befürwortern pädosexueller Beziehungen.

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Dennoch bleiben Fragen offen, bislang sind der Partei keine Opfer bekannt geworden.

Ja. Es ist im Grunde genommen ein Zwischenstand. Aber nach einem Jahr wollten die Mitglieder einen Bericht darüber, was wir herausgefunden haben. Wir haben sehr viele Gespräche mit damaligen Protagonisten geführt und die Erkenntnisse zusammengefasst. Gleichzeitig haben wir einen Aufruf gestartet, dass sich Missbrauchsopfer aus grünen Zusammenhängen melden. Wir wissen bis heute nicht, ob es in der Arbeitsgemeinschaft Jung und Alt, um die es vor allem geht, Opfer gibt oder nicht. Wir haben die Angst und die Befürchtung, dass es Opfer gibt, aber deren Perspektive fehlt bislang.

Sie sind selbst Gründungsmitglied der Grünen, also auch ein Zeitzeuge. Haben Sie für sich persönlich eine Erklärung dafür, dass die Partei die pädosexuellen Tendenzen so lange geduldet hat?

Das ging ja teilweise bis tief in die Wahlprogramme hinein. Es herrschte lange eine heute fassungslos machende Unklarheit und Unwissenheit darüber, welche Schäden bei den Opfern verursacht wurden. Das wurde erst langsam Mitte der 80er-Jahre klar. Aber auch die Öffentlichkeit nahm das nicht wahr. Die Aufregerthemen, mit denen die Alternative Liste wahrgenommen wurde, waren vor allem Fragen der Gewalt, der Hausbesetzer und der autofreien Stadt.

Haben Sie persönliche Erinnerungen an damalige Situationen oder Erlebnisse, von denen sie aus heutiger Sicht sagen, da hätte ich anders reagieren sollen?

Ich hatte 1984 den Auftrag vom Landesvorstand erhalten, zwischen Frauen und Schwulen in der Partei zu vermitteln. Da fuhren zwei Züge aufeinander los. Die Frauen waren erbost, weil die Schwulen unbedingt an der Streichung der Strafrechtsparagrafen zum sexuellen Missbrauch Schutzbefohlener und von Kindern festhalten wollten. Mein Kompromissvorschlag wurde von beiden Seiten abgelehnt. Kurt Hartmann, der die Schwulen-AG lange leitete, war ein Befürworter pädosexueller Handlungen.

Werfen Sie sich Fehler vor?

Ich werfe mir selber vor, die Sache nicht ernst genommen zu haben. Wir waren auch dumm und naiv, was die Schäden bei den Opfern angeht. Das war bei Jungen lange überhaupt kein Thema. Über die Spätfolgen hat man im Grunde genommen erst im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen im Canisius-Kolleg und der katholischen Kirche mehr erfahren. Das sind schwere Fehler und Versagen. Wir müssen damit leben, dass sich die Täter durch unser Verhalten ermutigt sahen. Dadurch, dass wir der Auffassung waren, dass sie möglicherweise zu Unrecht verfolgt wurden, sind die Täter gern in die Rolle der Opfer geschlüpft.

Sie sind auch Strafrechtler. Wie wurde das Missbrauchsthema damals von der Justiz behandelt?

Das war immer ein Schmuddelthema. Man wusste, dass Missbrauch im großen Stil geschieht. Da, wo es bekannt wurde, wurde es auch verfolgt und die Täter kamen in Haft. Aber als sie entlassen wurden, hatten wir den Tätern nichts anzubieten. Das Problem wurde zwar erkannt, aber es wurde nichts unternommen. Als ich in der Ausbildung war, gab es als einziges Angebot die chemische Kastration. Wer sich kastrieren ließ, konnte mit vorzeitiger Haftentlassung rechnen. Heute gibt es andere Angebote – wie an der Charité.

Wie lange wird die Grünen die Aufarbeitung des Themas beschäftigen?

Bestimmt ein bis zwei Jahre. Berlin war in negativem Sinn ein Hotspot für Pädosexuelle. Die Protagonisten und Trommler auf Bundesebene saßen in Berlin. Deswegen haben wir gesagt, der sogenannte Walter-Bericht, der die Verstrickungen der Bundespartei aufgearbeitet hat, kann es nicht gewesen sein. Nach der großen Welle durch unseren Bericht rechne ich damit, dass wir mit Aussagen von Betroffenen konfrontiert werden. Wir sind auf die Zeugenaussagen angewiesen. Wir sind bereit, eine finanzielle Entschädigung zu zahlen. Für viele wird das aber nicht entscheidend sein, sondern die Gesprächsangebote von uns. Danach wird sich die Kommission noch einmal zusammensetzen und überlegen, ob wir einen Abschlussbericht vorlegen.