Es geht ausschließlich um Jungen. Meist aus schwierigen Verhältnissen. Denen ein Ort der Geborgenheit versprochen wurde. Tatsächlich verbarg sich hinter den Einrichtungen, wie dem Falkensteinkeller in Kreuzberg, eine Anlaufstelle pädosexueller Täter, die minderjährige Jungen missbrauchten. Was genau geschah, ist bis heute nicht bekannt. Das soll sich nach dem Willen der Berliner Grünen ändern, denn mindestens zwei langjährige Mitglieder des Landesverbandes waren einschlägig vorbestrafte Sexualstraftäter, die ihre Forderung nach der Freigabe von Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern in der Partei vertraten – und lange damit Gehör im Landesverband fanden.
Das ist das erschütternde Ergebnis des Zwischenberichts der Grünen zu den Verstrickungen der Partei in pädosexuelle Netzwerke. „Wir schämen uns für das institutionelle Versagen unserer Partei“, sagte die heutige Co-Landeschefin der Berliner Grünen, Bettina Jarasch, am Mittwoch bei der Vorstellung des Berichts. „Wir haben es jahrelang versäumt, Verantwortung zu übernehmen, wir haben jahrelang die Beruhigungspille geschluckt, es gebe ‚einvernehmliche Sexualität‘ zwischen Kindern und Erwachsenen.“
Auf 90 Seiten hat die zwölfköpfige Kommission, bestehend aus Parteimitgliedern und externen Experten, das Ergebnis ihrer Arbeit zusammengefasst. Durch die vermeintliche Freizügigkeit in den Gründungsjahren der Partei sei ein gesellschaftliches Umfeld geschaffen worden, in dem sich Täter als Opfer darstellen können, heißt es in dem Bericht. „Wir bitten die Opfer um Entschuldigung“, sagte Jarasch. Es gebe aber keine Entschuldigung für das Verhalten der Grünen.
>> Kommentar: Das Entsetzen der Berliner Grünen <<
Mit der Aufklärungsarbeit des Berliner Landesverbands rücken pädosexuelle Gewalt und Täterschaft ganz nah an die Grünen heran. Genauer gesagt: in unmittelbare Nähe. Denn mit dem Aufarbeitungsbericht der Berliner Grünen stellt nun auch die Partei selbst endlich klar, dass sich die pädophilen Gruppen nicht nur darauf beschränkt haben, in Parteitagsbeschlüssen die Forderung nach Straffreiheit für sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern zu verankern. Der Missbrauch lag nicht weit entfernt außerhalb der Parteigrenzen. Die Hauptstadt-Grünen selbst sprechen jetzt von Hinweisen, nach denen es Fälle im unmittelbaren Einflussbereich der Partei gegeben haben muss. Es fehlen mehr als 30 Jahre später aber handfeste Beweise. Die Kommission hat bislang keine Opfer gefunden, die die Befürchtungen stützen.
Ein Refugium für Pädosexuelle
„Der grüne Schwulenbereich ist nach unserem Kenntnisstand der Ort in der Partei gewesen, in dem die uns bekannten Täter ein Refugium fanden“, sagte Daniel Wesener, ebenfalls Vorsitzender der Berliner Grünen. Die erschütternde Erkenntnis dabei ist, dass die Täter, von denen Wesener spricht, über Jahre einschlägig bekannte Wiederholungstäter gewesen sind. Sie waren in den Gründungsjahren im Sog des Kampfes gegen die Diskriminierung von Homosexuellen mit in die Partei gekommen und haben für ihre Ziele geworben. Die Partei zeigte sich im Hinblick auf Pädophilie fast anderthalb Jahrzehnte blind. Erst 1995 brach sie ganz offiziell mit der Verteidigung pädosexueller Gewalt.
In der Folge der sexuellen Revolution der 68er waren in den 70er-Jahren in einem linksintellektuellen Spektrum immer wieder auch Bestrebungen nach einer Entkriminalisierung sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern laut geworden. Auch der langjährige Leiter der Odenwald-Schule, Gerold Becker, hatte unter dem Deckmantel reformpädagogischer Erkenntnisse mehr oder weniger offen dafür gekämpft.
In Berlin drehen sich die Aufklärungsbemühungen vor allem um Fred Karst. Karst war 1980 wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden und ein bundesweit vernetztes Mitglied der Pädosexuellenbewegung, wie es im Bericht heißt. Während seiner Haft trat er den Grünen bei, die damals in Berlin noch Alternative Liste (AL) hießen. Zwischen 1986 und 1989 sei er erneut wegen Missbrauchs inhaftiert gewesen. Er gehörte dem Schwulenbereich der Berliner Grünen an und gründete 1992 die Untergruppe Jung und Alt.
„Vieles deutet darauf hin, dass hier womöglich auch im grünen institutionellen Bereich Kinder Opfer sexualisierter Gewalt geworden sein könnten“, sagt der heutige Berliner Landeschef Wesener. Im Klartext: Es ist wahrscheinlich, dass im Einflussbereich der Grünen vor allem Jungen Missbrauchsopfer wurden. „Belegen kann die Kommission das nicht“, betont Wesener. Die damalige, inzwischen längst aufgelöste Arbeitsgruppe Jung und Alt sei trotz aller Bemühungen um Aufklärung eine Blackbox geblieben. Weder über die Mitglieder, noch über deren konkrete Aktivitäten hätten sich Erkenntnisse in den Unterlagen oder von Zeitzeugen finden lassen können. Die Kommission geht davon aus, dass die Gruppe aus etwa sechs bis acht Personen bestand. Es sei auch bekannt, dass sie Jugendfahrten an die Ostsee plante. Ob sie stattgefunden haben und ob es dabei zu Missbrauch kam, konnte die Kommission bislang nicht klären.
Der mehrfach einschlägig verurteilte Sexualstraftäter Karst jedenfalls wurde 1995 im Alter von 66 Jahren erneut verurteilt. Als die Grünen daraufhin einen Parteiausschluss auf den Weg brachten, verließ er schließlich selbst die Partei.
Und da war Dieter F. Ullmann, der als bekennender Pädosexueller während seiner Haftzeit, die er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verbüßte, 1981 für das Berliner Abgeordnetenhaus kandidierte. Allerdings vergeblich. Wie Karst missbrauchte er nach den Erkenntnissen der Grünen über viele Jahre in sogenannten offenen Wohnungen wie dem Felsensteinkeller in Kreuzberg Jungen im Alter von sieben bis zwölf Jahren. 1989 trat Ullmann, wieder in Haft, bei den Grünen aus. Karst und Ullmann sind inzwischen verstorben.
„Nur in den zwei bekannten Fällen Fred Karst und Dieter F. Ullmann steht völlig außer Frage, dass sie als Mitglieder innerhalb der Grünen aktiv waren, obwohl die Partei wissen musste, dass es sich bei Ihnen um mehrfach verurteilte pädosexuelle Straftäter handelte“, sagt der heutige Landesvorsitzende Wesener. „Sie waren vor, während und nach ihrer Zeit bei den Grünen in den pädosexuellen Netzwerken Berlins organisiert und dürften dadurch über zahlreiche Kontakte zu anderen aktiven Pädosexuellen verfügt haben.“
Und dann war da noch Peter Schnaubelt. Er wurde erst nach dem Ende seiner Parteimitgliedschaft angeklagt und zwar wegen der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie in Kolumbien. Es habe aber in der Aufarbeitungskommission nicht abschließend geklärt werden können, was aus der Anklage geworden sei, räumt Wesener ein. „In anderen Fällen können wir nur mutmaßen, dass Leute, die mit oder ohne Parteibuch innerhalb der AL aktiv waren, nicht nur Propagandisten pädosexueller Positionen, sondern auch pädosexuelle Täter waren. Beweisen können wir das derzeit nicht.“
Fassungslos stehen die heutigen Verantwortlichen vor der Erkenntnis, dass kritische Stimmen damals kein Gehör fanden. Die Frauen AG aus Kreuzberg hatte immer wieder auf eine Klarstellung der Parteilinie gedrängt, war damit aber ebenso wenig erfolgreich wie einzelne Bemühungen der schwulen Grünen. Aber auch andere Institutionen zeigten sich zögerlich. So seien die Frauen in der Partei mit dem Versuch gescheitert, beim Kinderschutzverein Wildwasser mit dem Verweis, man kümmere sich nur um Mädchen, Verbündete zu finden.
Während in der Bundespartei pädophile Strömungen bereits Mitte der 80er-Jahre an den Rand gedrängt wurden, blieben in Berlin bis Anfang 1995 einzelne pädosexuelle Männer im Schwulenbereich aktiv. Es gehörte zur Gründungsprogrammatik, Minderheiten Gehör zu verschaffen und auch Häftlinge in die Parteiarbeit miteinzubeziehen. Die Forderung nach einer rechtlichen Besserstellung von Homosexuellen wurde von Einzelnen verbunden mit dem Ruf nach Straffreiheit für sogenannte einvernehmliche sexuelle Kontakte mit Jungen und Mädchen. Das natürliche Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern wurde dabei außer Acht gelassen. Vor allem grüne Frauengruppen machten mehrfach darauf aufmerksam, ohne jedoch Gehör zu finden.
Fehlende Opferperspektive
Die fehlende Perspektive der Opfer sei die größte Leerstelle, gibt Wesener zu. Es sei an den Grünen selbst, die Opfer zum Reden zu bewegen. „Nur wenn Betroffene davon ausgehen können, dass es uns mit unseren Bemühungen um Aufklärung und Aufarbeitung wirklich ernst ist, werden sie bereit sein, ihre Geschichte zu erzählen.“ Dazu seien eine Mailadresse und eine telefonische Anlaufstelle mit Experten eingerichtet. Auch Anerkennungszahlungen sollen geleistet werden.
Während Wesener und Jarasch mit Schuld und Verantwortung ringen, meldet sich auch die Bundesvorsitzende Simone Peter zu Wort. In einer Erklärung teilt sie mit, dass sich bislang sieben Betroffene an die Grünen gewandt hätten. „In fünf Fällen gab es keinen unmittelbaren Zusammenhang der Taten zur grünen Partei. In den beiden anderen Fällen sind wir mit den Betroffenen weiter im Gespräch.“
Die Berliner Grünen hoffen, durch den Zwischenbericht in Kontakt mit Opfern treten zu können, um den dunklen Fleck in ihrer Parteigeschichte zu erhellen.