In einem Berliner Pilotprojekt lernen islamische Frauen in Alphabetisierungskursen sich im deutschen Alltag zurechtzufinden. Das besondere: Die bundesweiten Kurse finden in Moscheen statt.

Hatice Eroglu schreibt. Ganze Sätze, auf Deutsch. Sätze wie “Ich bin müde.” Und “Ich gehe nach Hause.” Die Schrift sieht aus wie die einer Grundschülerin. Sie schreibt aber auch “Ich habe sechs Kinder und neun Enkel.” Hatice Eroglu ist Türkin, Mitte fünfzig, und sie ist sichtlich stolz auf das, was sie flüssig zu Papier gebracht hat. Seit zwölf Jahren lebt sie mit ihrem Mann in Berlin.

Sechs Deutschkurse hat sie im Laufe der Jahre absolviert. Doch sie habe dort nicht lesen und schreiben gelernt, sagt sie. Zu schwer sei der Unterricht gewesen, zu kompliziert. Erst ein Alphabetisierungskursus der Gesellschaft für Interkulturelles Zusammenleben (GIZ) ermöglichte ihr den Zugang zur deutschen Sprache. “Nun kann ich alleine einkaufen oder zum Arzt gehen sie”, erklärt sie. Und wieder strahlt sie voller Stolz.

Was vielen Menschen wie eine Kleinigkeit oder Selbstverständlichkeit erscheinen mag, ist für die türkischen Frauen, die an diesem Kursus teilgenommen haben, eine Revolution. Ein Schritt, der ihr Leben verändert hat. Sie sind nun selbstständiger und selbstbewusster, denn sie können lesen, schreiben und rechnen. Auf Deutsch und auf Türkisch. Sie sind nicht mehr tagtäglich darauf angewiesen, dass ihnen ihr Mann oder eines ihrer Kinder erklärt, was auf den vielen Schildern steht, denen sie überall begegnen oder was sie jetzt auf dem Formular ausfüllen sollen. Sie können die Haushaltskasse verwalten. Ihr neuer Leitsatz lautet: “Ich schaff es auch alleine.“

Moschee als Ort der Begegnung

Zwei Jahre dauerte der Kursus. Dreimal pro Woche, jeweils zwei Stunden, kamen bis zu 30 Frauen in Räumen der Yunus Emre Moschee an der Reinickendorfer Straße in Gesundbrunnen zusammen. Bereits die Wahl die Ortes war ein wichtiger Baustein für den Erfolg des Unterrichts. “Die Moschee ist seit jeher ein Ort der Begegnung und des Austauschs, nicht nur ein Ort der Religion”, sagt Ercan Umac, Projektkoordinator bei der GIZ. Dort träfen sich die Frauen ohnehin oft, zum Kochen und Backen, zum Reden, zum Koranunterricht. Dort könnten sie auch beten und ihre rituellen Waschungen vornehmen.

In diesem geschützten und vertrauten Raum konnten die türkischen Frauen das Angebot eines Alphabetisierungskurses annehmen. Sie blieben unter sich, die Atmosphäre war familiär, sie konnten auch Fehler machen. “Es war wichtig, dass wir zu den Frauen kommen und sie dort abholen, wo sie leben. Viele von ihnen würden nicht in eine Volkshochschule gehen. Wenn wir darauf warten, dass die Frauen zu uns kommen, warten wir ewig”, sagt Ercan Umac.

Und die Männer? “Die finden das gut. Die Familien unterstützen die Frauen sehr”, sagt Müjgan Alkan, die als lokale Koordinatorin das Bindeglied zwischen den Frauen, der Moscheegemeinde und der Gesellschaft für Interkulturelles Zusammenleben darstellt. Sie war in der Türkei Grundschullehrerin und ist geradezu prädestiniert für dieses Aufgabe. Vor allem sie hat das Projekt in die Gemeinde getragen, in der sie seit vielen Jahren fest verwurzelt und ehrenamtlich tätig ist, hat als Multiplikatorin gewirkt. Und erstaunlicherweise haben sich viele der 30 Frauen erst in dem Kursus kennen gelernt.

Der zweite Grund für dessen Erfolg war der pädagogische und sprachwissenschaftliche Ansatz. Kursleiter Özcan Kalkan unterrichtete nach der kontrastiven Methode. Das türkische und das deutsche Alphabet, Buchstaben, Silben, Wörter und Aussprache wurden miteinander verglichen. Der Unterricht in deutscher Sprache wurde immer wieder durch Erklärungen auf Türkisch ergänzt. Schließlich bildete Kalkan zwei Gruppen, eine für Anfänger, eine für Fortgeschrittene. Denn etliche der Frauen mussten komplett alphabetisiert werden, sie konnten auch im Türkischen kein Wort lesen oder schreiben.

Fit machen für den Alltag

Die Unterrichtseinheiten gestaltete Kalkan sehr alltagsorientiert: beim Arzt, auf dem Amt, auf der Post, am Geldautomaten. Das hätten sich auch die Frauen so gewünscht, berichtet er. Die Arbeitsbögen habe er ohnehin selbst erstellen müssen, Lehrmaterial für den kontrastiven Ansatz gebe es nicht. Am meisten Spaß hätten die Frauen an Rollenspielen gehabt. Dann gab er den deutschen Beamten und seine Schülerinnen die Kunden. Auch Ausflüge machte er mit ihnen, als Praxistest und um die Stadt kennen zu lernen. “Einige von ihnen waren vorher noch nie am Alexanderplatz oder am Kudamm”, sagt Kalcan. Wenn man nicht lesen und schreiben kann, verlässt man eben ungern den vertrauten kleinen Kiez.

Drei solcher Alphabetisierungskurse der Gesellschaft für Interkulturelles Zusammenleben gab es an Berliner Moscheen, in Wedding, Kreuzberg und Spandau. Sie wurden bis Ende Januar als Pilotprojekt vom Bundesbildungsministerium finanziert. Und für so erfolgreich erachtet, dass das Projekt der in Spandau ansässigen GIZ jetzt auf 25 Moscheen in ganz Deutschland ausgeweitet wird, vom Ministerium für mindestens drei Jahre finanziert.

Darum kümmert sich nun vor allem Ercan Umac. Seit Wochen listet er per Internetrecherche auf, welche Moscheen für solche Kurse in Frage kommen. In der kommenden Woche gibt es dazu ein Treffen bei der “türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion” (Ditib), dem Dachverband von 765 Moscheegemeinden. Voraussichtlich werden nun Alphabetisierungskurse unter anderem in Dortmund und Duisburg, Wiesbaden und Frankfurt, Hamburg und Bremen, München und Nürnberg stattfinden. Neben den Moscheen müssen auch lokale Koordinatoren gefunden werden, die die Kurse leiten. Sie sollen eine pädagogische Vorbildung haben, werden aber zusätzlich qualifiziert. Ziel ist, noch in diesem Jahr mit den Kursen zu starten.

In Berlin wird nur noch die Yunus Emre Moschee mit dabei sein. Viele der ehemals 30 Frauen wollen weitermachen. Sie können es kaum erwarten, dass der neue Kursus beginnt. “Sie fragen mich jeden Tag”, sagt Müjgan Alkan lächelnd. Noch im Mai soll es so weit sein. Hatice Eroglu ist begeistert. Sie habe viel zu Hause geübt, sagt sie. Nun wolle sie endlich weiter lernen. Am liebsten würde sie auch gleich noch einen Computerkursus machen. Es ist viel passiert, in der kleinen Moschee in Gesundbrunnen.