Bahn-Zentrale

Wie man 4400 Züge an einem Tag durch Berlin steuert

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Thomas Fülling

Foto: Amin Akhtar

Von Pankow aus wird der Schienenverkehr in vier Bundesländern gesteuert. Unter den 370 Mitarbeitern der Bahn-Betriebszentrale sind immer mehr Frauen - so wie die 24 Jahre alte Jaqueline Holle.

Es ist noch keine drei Jahre her, da hat Jaqueline Holle noch gekellnert. Jetzt sitzt die 24-Jährige in einem eher nüchtern-kahlen Großraum an einem riesigen Schreibtisch und schaut konzentriert auf gleich acht Monitore. Über die Bildschirme flimmert vor meist schwarzem Hintergrund ein Gewirr aus farbigen Linien und Punkten.

Was für den Laien eher an Baupläne für ein Kraftwerk erinnert, ist für Jaqueline Holle ein völlig klares Lagebild vom Eisenbahnverkehr im Süden Berlins. „Die roten Punkte, das sind Reisezüge, die blauen Güterzüge“, erklärt die junge Frau selbstbewusst dem etwas hilflosen Zuschauer. „Und die hellblauen?“ Das seien Züge in der Zukunft, also Prognosen. „Die muss man aber immer mit Blick haben, um richtig vorausplanen zu können.“

Und da sind ja noch die Linien in Grün und in Orange. „Orange zeigt mir die wegen Bauarbeiten gesperrten Gleise, grün sind die Fahrstraßen, die für einen Zug freigeschaltet sind.“ Alles klar soweit? Na ja.

Ein schmuckloser Bürokomplex

Jaqueline Holle ist eine von insgesamt 370 Mitarbeitern, die in der Bahn-Betriebszentrale in Berlin beschäftigt sind. Der schmucklose Bürokomplex am Rande des einstigen Güterbahnhofs Pankow ist quasi die Spinne in der Mitte eines 4630 Kilometer langen Schienennetzes, das die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und den nördlichen Teil von Sachsen-Anhalt umfasst.

Von hier aus werden für rund 4400 Züge, die jeden Tag durch Berlin und Brandenburg rollen, die Signale und Weichen gestellt. Spätestens seit dem Chaostagen im August 2013, als wegen Personalmangels am Mainzer Hauptbahnhof reihenweise Zugfahrten ausfielen, wissen die meisten Deutschen, wie wichtig ein Fahrdienstleiter für das reibungslose Funktionieren des Bahnverkehrs ist.

Für Jaqueline Holle ist dieser Arbeitstag ein ganz besonderer. Zweieinhalb Jahre lang hat sie gelernt und geübt, bis auf eine kleinere hat sie alle Prüfung mit Bravur bestand. Jetzt darf sie eigenverantwortlich Signale stellen und den Lokführern die Fahrwege zuweisen. „Es ist die Verantwortung, die mich gereizt hat“, beantwortet sie die Frage nach ihrem eher ungewöhnlich anmutenden Berufswechsel. Weder habe sie als Kind mit der Modelleisenbahn gespielt, noch habe es in der Verwandtschaft Eisenbahner als Vorbilder gegeben. „Erst als ich längst dabei war, habe ich erfahren, dass eine Oma von mir mal bei der Eisenbahn war.“

„Der Beruf hat sich stark gewandelt“

Berlins oberster Fahrdienstleiter ist Erik Hinke. Auf der Visitenkarte des 49-Jährigen steht die etwas komplizierte Bezeichnung Leiter AG Netzdisposition Betriebszentrale. Für Hinke kommt die Entscheidung der jungen Berlinerin weniger überraschend. „Der Beruf hat sich stark gewandelt.“ Es ist noch gar nicht so lange her, da war die Tätigkeit im Stellwerk mit harter körperlicher Arbeit verbunden. Um Signale und Weichen zu stellen, mussten lange Hebel umgeworfen werden.

Heute erledigen Motoren diese Arbeit, gesteuert von elektronischen Schaltzentralen. Hatte die Besatzung eines Bahnhofsstellwerks einst einige hundert Meter Gleis direkt aus dem Fenster im Blick, sind es heute kilometerlange Abschnitte, für die ein Mitarbeiter in der Betriebszentrale verantwortlich ist. Zu sehen bekommen Jaqueline Holle und ihre Kollegen die Schienen meist nur noch auf dem Bildschirm und nicht mehr in natura. „Um die Arbeit gut zu machen, ist vorausschauendes Denken ebenso notwendig, wie das gleichzeitige Lösen verschiedener Aufgaben“ sagt Hinke. Auf Neudeutsch: Multitasking. Inzwischen sei bereits jeder dritte Beschäftigte in der Betriebszentrale eine Frau, so Hinke. Was die Führungskräfte in einer Einrichtung, die 365 Tage im Jahr rund um die Uhr arbeitet, durchaus vor neue Herausforderungen stellt. „Wir müssen bei der Planung der Dienste die Vereinbarkeit von Beruf und Familie viel stärker berücksichtigen als noch vor Jahren“, sagt Hinke. Inzwischen gebe es neue Arbeitszeitmodelle, die auch Teilzeitarbeit ermöglichen, und einen hohen Grad an Mitbestimmung der Mitarbeiter bei der Dienstplanung.

Der Schichtbetrieb ist für Jaqueline Holle bisher kein Problem. „Das kenne ich ja nicht anders aus der Gastronomie“, sagt sie. Kinder hat sie noch nicht zu versorgen. In dieser Schicht ist die Köpenickerin verantwortlich für den gesamten Zugverkehr zwischen Südkreuz und Hauptbahnhof. „Hier hab ich schon so manche Verspätung wieder aufgeholt.“ Vier Gleise stehen ihr zur Disposition zur Verfügung. Einen klassischen Richtungsverkehr gibt es nicht mehr. Moderne Sicherungstechnik soll verhindern, dass ungewollt zwei Züge aufeinander zurasen. „Mir ist kein Fall bekannt, wo das hier in Berlin nicht funktioniert hat“, sagt Hinke. Probleme gebe es eher an eingleisigen Strecken ohne moderne Technik.

Hohe Flexibilität

Die hohe Flexibilität des Zugverkehrs hat indes nicht selten Folgen für die Reisenden. Wenn etwa der Eurocity aus Prag wegen einer Verspätung im Hauptbahnhof plötzlich am Gleis 8 statt wie im Fahrplan vorgesehen am Gleis 6 ankommt. Für die Fahrgäste, die mit dem EC weiter nach Hamburg fahren wollen, heißt es dann rasch zum Nachbarbahnsteig wechseln. Mit großem Gepäck geht es die Treppe hinauf und wieder herunter. Stress pur.

Jaqueline Holle bekommt davon in Pankow nichts zu sehen. „Aber ich weiß gut, wie den Reisenden dann zumute ist“, sagt sie. Doch was solle sie tun, wenn das für den EC vorgesehene Gleis durch einen nachfolgenden Zug belegt ist. „Ich versuche es so einzurichten, dass der Anschlusszug möglichst am selben Bahnsteig bereit steht“, so die 24-Jährige. Wichtig sei, dass die Reisenden möglichst rasch informiert werden. Auch eine Frage der Kommunikation zwischen den verschiedenen Dienststellen. Wird sie denn als Neuling von den alten Hasen überhaupt ernst genommen? „Kein Problem. Ich bin hier super aufgenommen worden.“