Zum Unterricht in eine Synagoge: Muslimische Schüler sprechen zum ersten Mal mit einem jüdischen Geistlichen. Dabei werden Vorurteile, die sie hatten, entkräftet.
Wie notwendig dieses Treffen war und was es gebracht hat, zeigt sich, als es zu Ende geht. „Wie hast du vorher über Juden gedacht und wie denkst du jetzt darüber?“, fragt der Reporter der Berliner Morgenpost. Die elf Jahre alte Nora antwortet: „Vorher dachte ich, dass alle Juden böse und ganz schlimme Menschen sind. Jetzt weiß ich, dass die nett und ganz normal sind.“ Das Mädchen verzieht dabei keine Miene – als hätte sie etwas ganz Normales gesagt.
Das „Vorher“, das sie meint – das war, als Nora und ihre Mitschüler der sechsten Klasse der Charlottenburger Mierendorff-Grundschule ihre Informationen über Juden ausschließlich aus dem Fernsehen, von ihren Eltern oder von Freunden und Bekannten hatten. „Jetzt“ – das ist, nachdem sie den Rabbiner Daniel Alter in einer Unterrichtsstunde kennengelernt und sich an diesem Mittwoch von ihm die Synagoge der Jüdischen Gemeinde an der Oranienburger Straße haben zeigen lassen.
Auch Senator Frank Henkel ist gekommen
Bei der Gesprächsrunde im Veranstaltungssaal des Gebäudes, zu der auch Innensenator Frank Henkel (CDU) und Ender Cetin, der Gemeindevorsteher der Neuköllner Sehitlik-Moschee, gekommen sind, sind die Jungen und Mädchen noch verhalten. Als Daniel Alter im Gebetsraum die große Thorarolle aus dem Schrank holt, versammeln sich die Kinder um ihn – und stellen Fragen. Aus welchem Material die Thora ist, wollen sie wissen („aus Pergament“), oder warum man im Gebetsraum eine Kippa tragen muss („Weil Gott den Menschen von oben auf den Kopf schauen kann und die Gläubigen deswegen ihr möglicherweise ungewaschenes Haar aus Respekt vor Gott bedecken sollten“).
Als Alter erklärt, dass man die Thorarollen nicht berühren dürfe, weil darin der Name Gottes stehe, schaltet sich Ender Cetin ein. „Im Islam ist das ähnlich“, sagt der Vorsteher der Sehitlik-Moschee. Muslime dürften den Koran zwar anfassen, sollten vorher aber die rituelle Waschung vollziehen. Die Schüler hören zu – und man merkt, dass sie von den vielen Gemeinsamkeiten, die den jüdischen und den islamischen Glauben verbinden, zuvor nie gehört haben. Dann fragt eine Schülerin: „Was passiert denn, wenn man die Thora aus Versehen doch anfasst?“ Alter antwortet: „Gott weiß genau, was in deinem Herzen passiert und wenn etwas aus Versehen passiert, ist es keine schlimme Sünde.“
Von muslimischen Jugendlichen verprügelt
Wohin es führen kann, wenn man Vorurteile pflegt, hat Alter am eigenen Leib erfahren müssen. Vor zwei Jahren wurde er aus antisemitischen Motiven von wahrscheinlich muslimischen Jugendlichen verprügelt. Seine damals sieben Jahre alte Tochter musste dabei zusehen. Nun steht Alter in der Synagoge und spricht zu den mehrheitlich muslimischen Kindern der Mierendorff-Schule – und sie blicken zu ihm auf, als wäre er ein Popstar. Am Ende des Treffens wollen einige sogar ein Autogramm von ihm.
Organisiert wurde das Treffen von dem gemeinnützigen Verein Leadership Berlin – Netzwerk Verantwortung. Das Projekt heißt Meet2respect: Trefft euch, damit ihr euch respektiert. „Wir wollen Vorurteile abbauen“, sagt der Geschäftsführer des Vereins, Bernhard Heider. Auch Innensenator Frank Henkel (CDU) unterstützt das Projekt. Nach der Ermordung des Schülers Jonny K. am Alexanderplatz hatte Henkel einen „Werte-Dialog“ ausgerufen. Es geht dabei um Integration und Respekt, um die Frage, wie man trotz unterschiedlicher Kulturen und Weltanschauungen friedlich miteinander leben kann. Der Senator nimmt sich eineinhalb Stunden Zeit, um mit den Schülern ins Gespräch zu kommen. „In Berlin leben Menschen aus 180 Nationen“, sagt Henkel. Das könne zu Konflikten führen. Umso wichtiger sei es, sich kennenzulernen und sich gegenseitig zu respektieren.
Interreligiöser Dialog ist in Berlin längst Alltag
Sich respektieren, indem man sich kennenlernt. An diesem Nachmittag funktioniert das – und anders als man bei den Schreckensmeldungen über Enthauptungen von Christen durch radikale Islamisten in Libyen oder Hetzpredigten in Berliner Moscheen vermuten könnte, gehören der interreligiöse Dialog und Versuche, Vorurteile durch gemeinsame Treffen abzubauen, in der Hauptstadt längst zum Alltag. Mehrmals im Monat würden er oder andere Mitglieder der Sehitlik-Gemeinde Schulklassen mit Vertretern anderer Religionsgemeinschaften besuchen, berichtet Ender Cetin. In der Sehitlik-Moschee am Columbiadamm, die wegen ihrer prächtigen Architektur bekannt ist, gebe es ohnehin fast täglich Führungen für Andersgläubige.
Das Treffen habe auf jeden Fall etwas gebracht, sagt auch Jutta Meutzner. Die Lehrerin der Mierendorff-Grundschule hatte gemerkt, dass einige ihrer Schüler antisemitisch dachten. Fast 80 Prozent stammen aus Familien mit einem Einwanderungshintergrund. Die meisten von ihnen sind türkischer oder arabischer Herkunft – und in ihren Wohnzimmern liefen neben der Tagesschau oft auch arabische Sender, in denen judenfeindliche Töne und eine einseitige Berichterstattung zum Nahostkonflikt normal seien. Das hinterlasse Spuren. Als Meutzner über die Weltreligionen sprechen wollte und als Anschauungsmaterial religiöse Gegenstände mitgebrachte, weigerte sich ein Schüler, einen jüdischen Gebetsschal oder eine Kippa anzufassen. „Er meinte, er wolle sich nicht infizieren“, sagt Meutzner. Als sie vorschlug, sich eine Synagoge anzuschauen, habe ein Mädchen angeekelt gesagt: „Ich gehe nicht zu Juden.“ Meutzner: „Die Vorurteile waren so massiv, dass ich dachte, da muss etwas passieren.“
Banale, aber neue Erkenntnisse
Das Mädchen, das erst nicht wollte, kam schließlich doch mit – und hörte dem Rabbiner begeistert zu. „Für manche war es gut, einfach mal einen Juden zu sehen und zu merken, dass das Menschen sind wie du und ich“, sagt Meutzner. Das klinge banal, sei für manche aber eine neue Erkenntnis. Projektleiter Heider betont, dass es nicht bei einem einmaligen Treffen bleiben dürfe, denn Vorurteile könne man zwar abbauen, sie könnten sich aber auch wieder aufbauen.
Wie anfällig einige Schüler dafür sind, zeigt sich an einigen Bemerkungen. Der elf Jahre alte Gözde sagt zum Beispiel: „Ich dachte früher immer, dass alle Juden böse und gemein sind. Heute weiß ich, dass das nicht stimmt.“ Er sagt aber auch: „Heute weiß ich, dass nur manche schlimm sind.“ Daniel Alter sagt, dass ihn antisemitische Einstellungen längst nicht mehr überraschen könnten. Umso wichtiger sei es, den Dialog fortzusetzen. Für die Schüler der Mierendorff-Grundschule steht der nächste Termin schon fest. Ende April wollen sie mit Ender Cetin und Daniel Alter die Sehitlik-Moschee besuchen.