In Neukölln kommt es ein- bis zweimal pro Tag zu Gewalt gegen Kinder, in ganz Berlin sind es 14 Fälle. Das Babylotsen-Programm von Charité und Vivantes-Klinikum Neukölln soll das ändern.

Meist ist es bereits zu spät, wenn die öffentliche Debatte um Kinderschutz geführt wird. Dann ist wieder ein Kind gestorben, das verprügelt oder zu Tode geschüttelt wurde oder einfach verhungert ist. Vielleicht hat es auch schwer verletzt überlebt.

Der Bezirk Neukölln hat nun mit einem neuen Kinderschutzprojekt begonnen, das einsetzt, lange bevor eine Misshandlung stattfinden kann. Am 1. Februar ist das Screening- und Beratungsverfahren Babylotse Plus am Vivantes Klinikum Neukölln gestartet. „Es geht nicht nur darum, hinterher zu reparieren“, sagte Rainer Rossi, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, „sondern darum, die sozialen Strukturen so aufzubauen, dass eine Prävention möglich ist.“ Vorsorge statt Nachsorge. Darum geht es bei dem Verfahren, das bereits vor zweieinhalb Jahren an der Charité am Campus Virchow und Mitte eingeführt worden war.

Ein Angebot an alle Mütter

Die Babylotsen wenden sich bereits im Krankenhaus, unter Umständen schon vor der Geburt des Kindes, an die Mütter, die Hilfe benötigen könnten. „Wir haben festgestellt, dass Familien in der Schwangerschaft am besten zu erreichen sind“, sagt Christine Klapp, Oberärztin der Klinik für Geburtsmedizin am Virchow-Klinikum der Charité. Schon ein Jahr danach sinke die Offenheit für solche Angebote. Der Unterstützungsbedarf wird mithilfe eines Fragebogens ermittelt, den jede werdende Mutter im Krankenhaus ausfüllen kann. Möchte die Mutter die Unterstützung eines Babylotsen in Anspruch nehmen, wird sie an die unterschiedlichen Unterstützungssysteme weitervermittelt. Nach vier Wochen oder Monaten, je nach Bedarf, nehmen die Lotsen erneut Kontakt auf, und klären, wo die Familie weiter Unterstützung braucht. Doch auch Frauen ohne einen ermittelten Hilfebedarf können sich an die Lotsen wenden, denn es soll ein Angebot für alle sein. „So vermeiden wir auch eine Stigmatisierung bestimmter Gruppen“, erklärt Klapp, die an der Charité das Projekt leitet.

Die Erweiterung des Präventionsprogramms ist wichtig, sieht man sich die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes an. Nachdem die Zahl der massiven körperlichen Misshandlungen in Deutschland von 2011 zu 2012 zurückgegangen ist, ist sie 2013 wieder gestiegen. Auf 4051 Fälle bei Kindern unter 14 Jahren, 1797 waren Kinder unter sechs Jahren. „Und da geht es nicht um Ohrfeigen oder ein grobes Anfassen am Arm“, sagt Michael Tsokos, der das Institut für Rechtsmedizin der Charité leitet und auch ärztlicher Leiter der Berliner Gewaltschutzambulanz ist. Es gehe um Gewalt, die Kinder erblinden lasse, ihnen das Gehör nehme oder sie ein Leben lang beeinträchtige. „In Berlin gibt es Politiker, die das Thema marginalisieren“, sagte Tsokos. Man höre immer, dass doch alles getan wurde, um ein Kind zu schützen. „Aber wo ist alles getan, wenn die Kinder tot auf meinem Tisch landen?“ 2013 sind in Deutschland 153 Kinder an den folgen von Misshandlungen gestorben. Michael Tsokos untersucht nach eigener Aussage jedes Jahr zwischen drei und acht tote Kinder. „Wir müssen weg von dem derzeit überwiegend praktizierten reaktiven Kinderschutz, hin zu einem präventiven Kinderschutz“, so Tsokos.

50 Millionen Euro für Familienhilfe

In Neukölln, wie fast überall in Berlin, wird bislang vorwiegend reagiert. 50 Millionen Euro gibt der Bezirk jedes Jahr für Familienhilfe aus. Zum Beispiel für Familienhelfer oder für die stationäre Unterbringung von Kindern, die in ihren Familien nicht mehr leben können. Es ist also eine Hilfe, die Familien in Anspruch nehmen, wenn Dinge schon schiefgelaufen sind. „Je früher wir ansetzen, desto günstiger wird es am Ende“, sagte der Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit, Falko Liecke (CDU). Laut einer Statistik des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen ist das Kostenverhältnis zwischen einer frühen Hilfe und einer Hilfe, die in der Kita ansetzt, eins zu 13. Beginnt die Unterstützung erst in der Schule, ist das Verhältnis eins zu 34.

Gerade in Neukölln ist der frühe Förderbedarf hoch. Der Anteil von Kindern mit Sprachdefiziten oder auffälliger Motorik liegt über dem Berliner Durchschnitt. Die Schuleingangsuntersuchung von 2010 ergab, dass zwei Drittel der Kinder in ihrer Entwicklung auffällig seien. Jährlich gibt es in Neukölln 556 Kinderschutzfälle. „Das sind 1,6 Fälle am Tag. Das ist zu viel“, sagt der Stadtrat. Deswegen hat der Bezirk neben den Babylotsen auch die nach eigener Aussage bundesweit einmalige App „Gesundes Neukölln“ eingeführt, die zum Beispiel an anstehende Impfungen erinnert oder Tipps zu staatlichen Geldleistungen gibt.

53.000 Euro für Neukölln

Für die Babylotsen stehen 2015 in Neukölln 53.000 Euro zur Verfügung. Das Geld stammt aus Mitteln der Bundesinitiative Frühe Hilfen. Davon kann das in freier Trägerschaft geführte Neuköllner Kindergesundheitshaus, das mit Vivantes kooperiert und die Babylotsen stellt, eine dreiviertel Stelle finanzieren. Mehr geht nicht. Auch für die Charité gibt es nur zwei Lotsen, die zwischen den Standorten Virchow und Mitte wechseln. „Die Finanzierung über die Bundesmittel funktioniert nur bedingt, da das Geld auch in andere Projekte gesteckt wird“, sagte Christine Klapp. Die Finanzierung an der Charité sei jedenfalls nicht gesichert. Kerstin Sauer, Geschäftsführerin des Kinderhauses, betont, dass ihre Einrichtung im Gegensatz zu großen Konzernen nicht die Möglichkeit habe, eine weitere Stelle querzufinanzieren. „Langfristig wären zwei Stellen schon sehr gut“, sagte sie.

Ein Forschungsprojekt an der Charité zeigt, dass sich die eingesetzten Mittel auszahlen. So wurden 80 Prozent aller gebärenden Frauen mit dem Fragebogen erfasst. Bei 46 Prozent gab es Hinweise auf Unterstützungsbedarf, und bei rund 16 Prozent wurde der Fall an den Sozialdienst weitergeleitet. Ohne das Screening wäre Hilfe erst später gekommen – vielleicht zu spät.