Jeder achte Erwachsene ist in Berlin überschuldet, in den armen Stadtteilen jeder sechste. Die Schuldnerberatungsstellen haben festgestellt, dass vor allem Miet- und Energieschulden zunehmen.
Berlins arme Stadtteile sind rot. Wo viele Arbeitslose und Empfänger von Niedriglöhnen leben, sind auch viele Menschen überschuldet: In Wedding, Neukölln, Süd-Reinickendorf, aber auch in Spandau, Kreuzberg und Hellersdorf ist mindestens jeder sechste Erwachsene in der Schuldenfalle gefangen. In Wedding sogar jeder fünfte. Das ist zwar besser als noch vor einigen Jahren. „Aber die Überschuldung ist gerade in bestimmten Stadtteilen ein dramatisches Problem“, sagte die sozialpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Ülker Radziwill.
Der Schuldneratlas der Creditreform zeigt aber auch, dass das Problem in den wohlhabenderen Teilen Berlins vergleichsweise überschaubar ist. Nord-Reinickendorf, Steglitz, Zehlendorf und Köpenick liegen mit Schuldnerquoten von unter zehn Prozent besser als der bundesdeutsche Durchschnitt. Und auch die Aufwertung einiger Innenstadtteile hat über die Jahre Wirkung gezeigt. In Friedrichshain leben heute deutlich weniger Menschen mit dauerhaft offenen Rechnungen als früher. Auch in Prenzlauer Berg, Pankow und Alt-Mitte hat sich die Schuldenproblematik abgeschwächt. In absoluten Zahlen besonders gestiegen ist die Zahl der überschuldeten Bürger in Schöneberg, Tempelhof, Hohenschönhausen, Hellersdorf und Marzahn.
Creditreform-Chef Jochen Wolfram nannte zwei Gründe für den Anstieg in Zeiten guter Konjunktur, ordentlicher Tarifabschlüsse und niedriger Zinsen. „Zurückgehende Sparneigung und kreditfinanzierte Konsumverschuldung“, stehen nach seiner Einschätzung hinter dem Anstieg der Zahlen. In Berlin gelten 374.000 Erwachsene als überschuldet, 224.000 davon sind so tief in den Miesen, dass sie auch bei professioneller Beratung kaum Chancen haben, ohne eine Privatinsolvenz ihre Verbindlichkeiten loszuwerden und finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Dennoch riet Wolfram allen Bürgern, die Zahlungsschwierigkeiten haben, Hilfe zu suchen: „Wir empfehlen professionelle Beratung“, sagte Wolfram.
Wartezeitung für Beratung
Wer sich an die 19 staatlich anerkannten Schuldnerberatungsstellen wendet, muss aber meist Geduld mitbringen. Die Wartezeiten können je nach Bezirk mehrere Wochen betragen. Nur bei akuten Krisen wie der drohenden Räumung der Wohnung wegen Mietschulden lasse sich ein Termin innerhalb weniger Tage vereinbaren, sagte Susanne Fairlie von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung. Aber insgesamt sei der Bedarf für das bestehende Angebot zu groß. „Wir brauchen mehr Schuldnerberatungsstellen“, sagte Fairlie. Zwar seien nicht nur Berliner mit niedrigem Einkommen Klienten der Beratungsstellen. Aber vielfach kämen eben doch Arbeitslose oder Erwerbstätige aus dem Niedriglohnsektor. Auch diesen Gruppen werde es heute leichter gemacht als früher, sich etwa über Ratenkredite weiter zu verschulden.
Sozialpolitiker aus Koalition und Opposition gehen davon aus, dass für die nächsten Haushaltsberatungen wieder über mehr Geld für die Schuldnerberatung diskutiert werden muss. Bisher gibt das Land nach Angaben der Senatsverwaltung für Soziales 6,1 Millionen Euro jährlich für die Schuldnerberatung aus, 2012 war das Budget um eine halbe Million Euro aufgestockt worden. Sozialdemokratin Radziwill ist überzeugt, dass jeder hier investierte Euro sofortigen Mehrwert schaffe, weil Menschen ihr eigenes Leben durch eine Beratung leichter in den Griff bekämen. Elke Breitenbach, Sozialexpertin der Linken, sieht strukturelle Defizite. So fehle es an fremdsprachigen Angeboten. „Vor allem müssen die Jobcenter enger mit den Schuldnerberatungen zusammenarbeiten“, sagte die Abgeordnete. Das sei zwar schon länger verabredet, aber längst nicht überall in Berlin Realität.
Miet- und Energieschulden wachsen
Die Schuldnerberatungsstellen haben festgestellt, dass in jüngerer Zeit vor allem Miet- und Energieschulden zunehmen. Neben den Problemen mit der allgemeinen wirtschaftlichen Haushaltsführung sind diese Kosten inzwischen die wichtigsten Probleme der Schuldner. Jeder Vierte der 11.300 Klienten, die im zweiten Halbjahr 2013 in die Beratung kamen, hatten Außenstände bei ihrem Energieversorger. Jeden Dritten plagten Mietschulden, im Durchschnitt 4400 Euro. Problem verschärfend wirkten die hohen Nebenkosten, die viele Inkassounternehmen auf die eigentliche Schuld aufschlagen. Besonders stark zugenommen habe der Anteil von Älteren, aber auch von jungen Menschen unter 29 Jahren, die Hilfe suchen. Zwölf Prozent der Besucher waren über 60, 16,1 Prozent zwischen 20 und 29 Jahren alt.
Die Daten belegen auch, dass vor allem Arbeitslose und Geringqualifizierte in die Schuldenfalle geraten. 54 Prozent der Klienten hatten keinen Berufsabschluss, 43 Prozent waren arbeitssuchend. Menschen mit Hochschulabschluss kamen fast nie in die Beratung. Ihr Anteil an allen Ratsuchenden lag nur bei 3,5 Prozent.
jof