In Berlin wurde erstmals in Europa eine soziale Umweltkarte erstellt. Das Ergebnis: Die Umweltbelastungen sind ungleich verteilt. Besonders hart trifft es die Scharnweberstraße in Reinickendorf.

Im Takt von wenigen Minuten donnern die Flugzeuge über die Häuser der Scharnweberstraße in Reinickendorf. Die Start- und Landebahnen des Flughafens Tegel sind keine drei Kilometer entfernt. Die Luft dort im Norden Berlins ist schlecht. Anwohner finden wegen des Lärms nicht in den Schlaf. Ganz anders in einer Berliner Straße rund 20 Kilometer südlich. Dort in der Sven-Hedin-Straße in Steglitz-Zehlendorf, gesäumt von herrschaftlichen Villen und alten Bäumen, ist es ruhig. Der Gesang der Nachtigall ist wohl das einzige Geräusch, das den Schlaf der Bewohner stören könnte. Berlin ist ungerecht.

Die Umweltbelastungen sind in der Stadt ungleich verteilt, häufig abhängig von der Wohnlage, aber auch vom sozialen Status der Bewohner. Es geht um eine Gerechtigkeit, deren Fehlen vielen Menschen nicht bewusst ist, die sich oft nicht einmal genau benennen lässt. Lärm wie der eines Flugzeugs lässt sich benennen.

Aber das alltägliche Summen des Verkehrs? Wärme? Die Belastung der Luft? In den 80er-Jahren wurde in den USA dafür der Begriff der Umweltgerechtigkeit entwickelt, der sich nun auch in Deutschland einen Weg in die Diskussion um die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Gesundheit bahnt. Berlin spielt in Europa eine Vorreiterrolle, 2009 startete das Modellvorhaben „Umweltgerechtigkeit im Land Berlin“.

Vier Kriterien: Lärm, Luft, Bioklima und Grünflächen

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt hat in enger Kooperation mit der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, dem Umweltbundesamt, dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, sechs deutschen Universitäten und mehreren Forschungseinrichtungen zum ersten Mal in einer europäischen Stadt analysiert, welche Sozialräume wie belastet sind, mit Hilfe von Daten, die bereits in anderen Einzeluntersuchungen gewonnen wurden und immer wieder neu erhoben werden. Vier Kriterien wurden angesetzt: Lärm, Belastung der Luft, zum Beispiel mit Feinstaub, Bioklima und dabei besonders die Wärmebelastung im Sommer auf Grund von dichter Bebauung und die Versorgung mit Grünflächen. Außerdem wurde die soziale Belastung mit einbezogen, um festzustellen, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem sozioökonomischen Status und den Bedingungen des Wohnumfeldes. Dem Vorhaben lag die Annahme zu Grunde, dass es gesundheitsgefährdende Umweltbedingungen besonders in Gebieten mit hoher sozialer Problemdichte gibt.

Nun liegen die Ergebnisse der ersten Analyse vor und die Annahme hat sich bestätigt: „Sozial benachteiligte Quartiere in Berlin sind überdurchschnittlich häufig im Hinblick auf ein gesundes Umfeld benachteiligt“, sagt Heinz-Josef Klimeczek, der das Projekt initiiert hat und leitet. Die Ergebnisse des Modellprojektes, das als Stadtbeobachtungssystem etabliert und in Zukunft weitergeführt werden soll, sind auf der sogenannten Berliner Umweltgerechtigkeitskarte (siehe Karte) zusammengefasst. „Es ist ein Gesamtüberblick und eine Bestandsaufnahme zur Umwelt- und Wohnqualität in Berlin“, erklärt Klimeczek. „Wir wollen die komplexen Sachverhalte auch für die Betroffenen in den belasteten Quartieren transparent und nachvollziehbar darstellen.“ Die Karte zeigt, welches Teilgebiet Berlins welchen Belastungen ausgesetzt ist.

Gebiet um Scharnweberstraße besonders belastet

Als räumliche Grundlage für die Analyse dienten sogenannte „Lebensweltlich orientierte Räume“ (LOR). 447 dieser unterschiedlich großen Planungsräume gibt es in Berlin, im Schnitt wohnen dort 7500 Menschen. Auf dieser Karte ist das Teilgebiet um die Scharnweberstraße schwarz. Fünffachbelastung. Es ist sehr laut, die Luft schlecht, es ist warm, die Versorgung mit Grünflächen ist schlecht und die soziale Problemdichte hoch. Der Planungsraum rund um die Sven-Hedin-Straße ist dagegen hellgrün dargestellt, also unbelastet.

Doch es gilt nicht grundsätzlich: je problematischer die soziale Lage der Bewohner, desto höher die Umweltbelastung. Die Karte zeigt, im Innenstadtbereich liegen die meisten Gebiete mit Mehrfachbelastungen, die Gebiete ohne mehrfache Belastung liegen vorwiegend in den Außenbezirken. So sind Teile von Marzahn-Hellersdorf, die eine hohe bis sehr hohe soziale Problemdichte aufweisen, ansonsten unbelastet. Gleichzeitig sind Teile von Friedrichshain-Kreuzberg dreifach belastet und trotzdem ist der Bezirk gerade bei jungen Leuten beliebt. Es ist immer auch eine Frage der Freiwilligkeit.

>> Der Feinstaub-Monitor: Wo die Belastung am höchst ist

Mit der beschäftigt sich Horst-Dietrich Elvers. Er leitet in Friedrichshain-Kreuzberg die Planungs- und Koordinierungsstelle Gesundheit und ist einer der wenigen auf Bezirksebene, der sich um Umweltgerechtigkeit kümmert. Ihn treibt der Gedanke um, dass Menschen ohne eigene Schuld einem gesundheitlichen Risiko ausgesetzt sind, nur weil der Geldbeutel nicht entsprechend gefüllt ist. „Man muss sich die Frage stellen, wo es sich Menschen mit geringem Einkommen leisten können zu leben und was sie dafür in Kauf nehmen, zum Beispiel an gesundheitlichen Folgen.“

Feinstaub kann krank machen

Laut der Analyse der Senatsverwaltung liegen Gebiete mit hoher sozialer Problemdichte, die gleichzeitig von hohen gesundheitsrelevanten Umweltbelastungen betroffen sind, vor allem in Nordneukölln, in Mitte, im südlichen Reinickendorf und in Tempelhof-Schöneberg. „Ein wesentliches Ziel des neuen Stadtbeobachtungssystems ist, die Realität in den Berliner Stadtteilen widerzuspiegeln“, erklärt Michael Thielke, Leiter der Abteilung Umweltpolitik in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, wo das neue Stadtbeobachtungssystem angesiedelt ist.

Welche gesundheitlichen Folgen diese Realität nach sich zieht, wird aus der Analyse nicht sichtbar. Doch die Risiken sind bekannt. In der Luft enthaltener Feinstaub kann Herz-Kreislauferkrankungen verursachen. Lärm verursacht Schlafstörungen und kann bei chronischer Belastung zu einem Herzinfarkt führen. Auch freie Grünflächen sind wichtig für die Gesundheit. Zumindest aber als Regenerations- und Erholungsflächen notwendig. Horst-Dietrich Elvers aus dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg stellt im Hinblick auf die gesundheitlichen Risiken auch die Frage nach der Ökonomie. „Würde es sich nicht rechnen, die Umweltgerechtigkeit in der politischen Arbeit zu berücksichtigen? Denn was kostet eine Lungenerkrankung?“ Doch hat er wenig Hoffnung. „Die großen Handlungspläne wird es nicht geben. Das wird alles im Klein-Klein versickern.“

Tatsächlich spielen gesundheitsrelevante Umweltverhältnisse bei der Stadtplanung noch eine untergeordnete Rolle. Das soll sich ändern. „Diese zusammenfassende Betrachtung der Umweltsituation ist ein neues Frühwarnsystem“, sagt Michael Thielke, „die Analyse ist vor allem im Hinblick auf die Entwicklung von Strategien zur Verminderung gesundheitsrelevanter Umweltbelastungen von Bedeutung.“ Das gelte besonders in Hinsicht auf Teilbereiche der Stadt mit einer problematischen Sozialstruktur.

Herbert Lohner vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Berlin sieht in der zusammenfassenden Betrachtung eine Chance: „Moderner Stadtnaturschutz muss das Soziale mitdenken. Umweltgerechtigkeit und Partizipation sind die beiden Facetten hierfür.“ Die Ausgangslage sei nun hervorragend. Jetzt komme es darauf an, dass das Thema in der Politik wahrgenommen werde und in die konkrete Stadtentwicklungspraxis in den Bezirken einfließe. „Eingedenk der Personalsituation ist jedoch Skepsis angebracht – oder sehr viel Hoffnung“, sagt Lohner.

Gemeinsames Verständnis

Die Senatsverwaltung ist mit den Bezirken im Gespräch. Voraussichtlich noch in diesem Jahr soll ihnen die Analyse zur Verfügung gestellt werden. Es wird vor allem darum gehen, wie sich die Ergebnisse in konkrete Strategien umsetzen lassen und wie alle Ressorts zusammenarbeiten. „Durch diese Zusammenführung der bereits vorhandenen Daten wollen wir das gemeinsame Verständnis und den Austausch von Wissen zwischen den politischen Entscheidungsträgern auf allen Entscheidungsebenen verbessern und frühzeitig auf umweltbezogene Risiken oder ungünstige Entwicklungen in Stadtteilen aufmerksam machen“, erklärt Heinz-Josef Klimeczek. Es gehe um einen integrativen Ansatz auf gesamtstädtischer Ebene. „Im Grunde müssten wir die Themen behandeln, die es ohnehin schon gibt“, sagt Horst-Dietrich Elvers, „nur eben gemeinsam.“

Voraussichtlich in den ersten Monaten 2015 sollen die Ergebnisse dieses bundesweit ersten Umweltgerechtigkeits-Monitorings auch im Internet veröffentlicht werden. Die Bürger sollen sich wichtige Informationen für die jeweiligen Quartiere herunterladen können.