Der ehemalige Berliner Finanzsenator und Bestsellerautor Thilo Sarrazin verteidigt im Gespräch mit der Berliner Morgenpost seinen Auftritt bei der AfD - schließt aber einen SPD-Austritt aus.

Thilo Sarrazin ist das mutmaßlich umstrittenste Mitglied der SPD. Der ehemalige Berliner Finanzsenator und heutige Bestsellerautor macht immer wieder mit provokanten Thesen von sich reden, die nicht der Parteilinie entsprechen. Zuletzt sorgte der 69-Jährige durch Auftritte bei der rechtskonservativen Alternative für Deutschland (AfD) für Schlagzeilen – und Ärger bei den Sozialdemokraten. Generalsekretärin Yasmin Fahimi legte ihm den Parteiaustritt nahe. Wir trafen Thilo Sarrazin im Café Einstein in Tiergarten.

Berliner Morgenpost: Herr Sarrazin, Sie haben kürzlich bei einer AfD-Veranstaltung aus ihrem jüngsten Buch gelesen. Was haben Sie denn dort für Leute kennengelernt?

Thilo Sarrazin: Das waren Honoratioren im klassischen bürgerlichen Sinne – Zahnärzte, Unternehmer, alles ehrenwerte, nachdenkliche Leute.

Sie haben ein Buch über den neuen Tugendterror geschrieben, den politisch-korrekte Kreise angeblich ausüben gegen Menschen, die die Dinge anders sehen als sie. Ist die AfD ein Opfer des Tugendterrors?

Ja, sie sieht sich jedenfalls so. Die übrigen Parteien sind vom Erscheinen der AfD nicht begeistert. Es gab Versuche, ihr die Legitimität abzusprechen. Das ist bei jeder neuen Partei so, bei den Grünen oder der Linkspartei war es nicht anders. Man hat auch versucht, die AfD in die rechtspopulistische Ecke zu rücken. Über ihre Zukunft entscheidet ihre ganz eindeutige, inhaltlich und personell glaubwürdige Abgrenzung nach rechts.

Kann es nicht als Wahlkampfhilfe verstanden werden, wenn Sie bei der AfD auftreten?

Wenn ich bei einer Partei auftrete, ist das nie völlig unpolitisch. Ich war auch schon bei CDU, CSU oder FDP. Ich vermeide aber bei Parteien, die nicht SPD heißen, Auftritte im Wahlkampf. Aber das war ja hier nicht der Fall. Entsprechende Anfragen der AfD habe ich abgelehnt.

Die Parteiführung der AfD erklärt ihren Erfolg damit, die Themen auf die Agenda gesetzt zu haben, die die Menschen wirklich bewegen und die andere Parteien liegen lassen, etwa Zuwanderung und Kriminalität. Insofern sind Sie doch Brüder im Geiste, oder?

Ich habe in meinen drei letzten Büchern Themen angesprochen, die ich wichtig fand. Bildung, Zuwanderung, Integration, Demografie, europäische Währungsunion. Der Erfolg meiner Bücher zeigt, dass diese Themen offenbar viele Menschen bewegen. Dass die AfD inzwischen in einem stabilen Prozentbereich angekommen zu sein scheint und dass sie ihre Wähler relativ gleichmäßig von fast allen demokratischen Parteien und den Nichtwählern zieht, zeigt, dass sie offenbar ein politisches Bedürfnis erfüllt.

Mit welchen Thesen der AfD, beispielsweise zu Zuwanderung oder Kriminalität, können Sie sich identifizieren und bei welchen sind Sie anderer Ansicht?

Es ist immer wichtig, eine richtige Analyse zu machen. Aus einer guten Analyse ergibt sich meistens schon die Lösung. Das Problem in Deutschland ist, dass gewisse Fragen in der politischen Debatte gar nicht mehr wirklich angesprochen und analysiert werden – die Geburtenentwicklung und ihre Folgen, Einwanderung, Integration, Währungsunion. Ich begrüße alles, was diesem Mangel an politischer Debatte abhilft. Dabei geht es gar nicht darum, welche Lösung man wählt. Erst einmal muss man die Themen diskutieren. Für die Probleme in der Europäischen Währungsunion gibt es derzeit keine Lösung. Trotzdem muss man sich damit befassen, was falsch gelaufen ist. Wenn die Existenz der AfD bewirkt, dass bestimmte Fragen vertieft diskutiert werden, ist das nicht negativ.

Ist die AfD mehr als eine Protestpartei?

Was ist an Protest eigentlich so schlimm? Als der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein 1863 von Ferdinand Lasalle gegründet wurde, war das eine Protestpartei. Das Kommunistische Manifest war Protest. Als die Grünen mit Joschka Fischer an der Spitze nach der Macht griffen, haben sie das als Protestpartei getan. Die Protestanten heißen Protestanten, weil sie Protest gegen die Katholiken artikulierten. Menschen engagieren sich politisch, weil sie mit den Zuständen unzufrieden sind. Es beginnt mit Protest, dann entsteht eine Sammlungsbewegung, und eventuell kommen Lösungen heraus. Nur Akademiker, die nicht im Leben stehen, stellen sich vor, dass irgendeiner die Lösung des Welträtsels aufschreibt und dann dafür wirbt.

Genau dieser Vorwurf wird der AfD aber gern gemacht. Lauter Professoren mit Pensionsberechtigung schreiben etwas auf. Ihr Parteifreund, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, sagt, das AfD-Programm wäre ein Jobkiller.

Ich möchte Gabriels spezifische ökonomische Qualifikation nicht weiter diskutieren. Ich kenne viele führende Köpfe der AfD persönlich, Hans-Olaf Henkel. Bernd Lucke, Joachim Starbatty, Alexander Gauland, einige davon seit vielen Jahren. Das sind alles seriöse Menschen, die über die Welt nachdenken. Dass sie dabei den einen oder anderen Denkfehler machen, ist normal. Aber ich behaupte mal, dass sie mehr über Wirtschaft und die Probleme und Risiken einer falsch konzipierten Währungsunion wissen als das gegenwärtige Bundeskabinett mit Angela Merkel an der Spitze. Im ganzen Bundeskabinett gibt es keinen Fachmann für Wirtschaft, Währung und Finanzen.

Sie können also Menschen verstehen, die die AfD wählen?

Ich kann auch Leute verstehen, die die Grünen wählen.

Wird die AfD so stark wie derzeit bleiben oder gehen die Werte auch wieder runter?

Das ist Kaffeesatzleserei. Aber unsere Parteienlandschaft besteht nicht mehr aus nur zwei oder drei Parteien. Linkspartei und Grüne sind gekommen, um zu bleiben. Das linke Lager ist dauerhaft in drei Parteien aufgespalten. Da die FDP nicht mehr so schnell zurückkehren wird, wird es auch im demokratischen rechten Lager auf die Dauer mehr als eine Partei geben. Die AfD hat alle Chancen, diese Rolle einzunehmen, wenn sie jetzt keine krassen Fehler macht.

Der AfD und Ihnen wird von Kritikern gleichermaßen vorgeworfen, dass sie mit Ihren Thesen im bürgerlichen Gewand den Boden bereiten für Rechtsextreme und Rassisten, die sich daraus bedienen. In der AfD haben viele Leute eine Vergangenheit in rechten Splittergruppen. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?

Ich diskutiere immer gern über die Thesen meiner Bücher. Aber auch vier Jahre nach „Deutschland schafft sich ab“ wurden kein dort analysierter Zusammenhang und keine wichtige Zahl widerlegt. Denken Sie nur an den Islam. Was dort im Moment mit dem IS läuft, sprengt den Rahmen jeder Phantasie. 400 Islamisten, die aus Deutschland dorthin gegangen sind, wurden in deutschen Moscheen radikalisiert. Da denken eben viele Leute, der Sarrazin hatte doch recht. Wenn nun andere Menschen meine Argumentation aufgreifen, ist das ebenso wenig verwerflich, wie sich aus dem „Wohlstand der Nationen“ von Adam Smith oder aus dem „Kapital“ von Karl Marx zu bedienen.

Ihre Bücher kann ja lesen, wer will. Aber eine Partei muss doch schon Sorge haben, wenn Extremisten eintreten.

Das ist bei neuen Parteien immer so. Die Grünen haben es bis heute nicht geschafft, ihren Chaotenflügel in jeder Situation zu beherrschen. Und die Linkspartei hat gerade im Westen Menschen in ihren Reihen, die unverträglich sind. Niemand kann der AfD von außen helfen, sich von allen möglichen Elementen zu reinigen und zu einer einigermaßen rationalen Willensbildung zu finden.

Wie bewerten Sie den Umgang der anderen Parteien mit der AfD?

Eine allgemeine Kommunikationsregel ist: Wenn man etwas bekämpft, macht man es damit bekannt und möglicherweise auch attraktiv. Darum gilt als erste Option: Totschweigen. Wenn das nicht hilft, holt man anrüchige Etiketten hervor. Und erst, wenn die Sache nicht verschwindet, muss man sich der Wirklichkeit annähern. Man wird sich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen müssen, dass sich eine bürgerliche Partei neben der Union bei Wahlen ohne Weiteres einen zweistelligen Prozentsatz sichern kann.

Können Sie nachvollziehen, warum jemand, der vorher SPD gewählt hat, jetzt zur AfD wechselt?

Der nicht politisch aktive Teil der Wähler ist bei Linken, SPD und Union relativ ähnlich strukturiert. Die Menschen kümmern sich um ihre Arbeit, ihre Familie, ihre Freunde, machen sich Gedanken über die Welt. Sie möchten, dass die Themen, die sie angehen, behandelt werden. Die meisten Themen lassen sich nicht mehr im herkömmlichen Links-Rechts-Schema einordnen.

Ein wichtiges Thema für die AfD ist die Flüchtlingspolitik. Wie würden Sie mit Flüchtlingen umgehen in Deutschland?

Man muss unterscheiden: Politisches Asyl wurde für Menschen geschaffen, die politisch oder rassisch verfolgt werden. Das waren zu allen Zeiten nur wenige. Das Flüchtlingsthema ist ein anderes: In Ländern, die nicht in der Lage sind, eine vernünftige Ordnung herzustellen und dem Leben dauerhafte Perspektiven zu geben, neigen die Menschen dazu, wegzugehen. Dorthin, wo es besser ist. Das sind anderthalb bis zwei Milliarden Menschen, fast ganz Afrika und der Nahe Osten. Wenn wir den humanitären Maßstab anlegen, sind sie fast alle für einen Flüchtlingsstatus in Europa qualifiziert. Das kann es aber nicht sein. Der Maßstab muss lauten, dass alle Staaten für ihre eigenen Probleme verantwortlich sind und diese auch lösen müssen. Dabei leisten wir Hilfe. Das war es dann aber auch. Sonst gibt es keine natürliche Grenze, dass nicht demnächst jährlich 800.000 Menschen nach Deutschland kommen. Mit dem Familiennachzug werden daraus ganz schnell zwei Millionen. Diese Frage muss prinzipiell diskutiert werden. Das vermeiden aber unsere Politiker.

Heißt das: Grenzen schließen?

Die Lösung ist eine rationale europäische Politik, die die Außengrenzen der EU wirksam kontrolliert und nur jene einreisen lässt, die politisches Asyl bekommen können. Flüchtlingen kann man auch in oder nahe ihren Heimatländern helfen. Je mehr Boote von Flüchtlingen Lampedusa erreichen, umso besser verdienen die Schlepperbanden, umso mehr Flüchtlinge werden kommen.

Also soll die Marine die Boote zum Beidrehen zwingen und sie wieder nach Libyen schicken?

Man muss die Grenze so sorgsam kontrollieren, dass sie gar nicht erst ankommen. Die wirksame Sicherung der Grenzen ist eine Frage der politischen Entscheidung, die aber nicht getroffen wird. So setzen wir uns einem Jahrzehnte anhaltenden Flüchtlingsstrom aus, für den wir keine inhaltlichen Konzepte haben und mit dem wir den Heimatländern nicht wirksam helfen.

Wie sollen aber bei diesem Modell wirklich politisch Verfolgte nach Europa beziehungsweise nach Deutschland gelangen? Sie schaffen de facto das Asylrecht ab.

Es ist die Sache jedes politisch Verfolgten, ein sicheres Land zu erreichen. Nicht die Sache des Aufnahmelandes. Ein wirksames Grenzregime ist die elementare Aufgabe jeden Staates.

Sie sind ja immer noch Sozialdemokrat. Viele wollen Sie aus der Partei werfen. Welche Werte hat die SPD, die die AfD nicht hat?

Ich bin seit 1973 in der SPD, vor einem Jahr habe ich vom Vorsitzenden Sigmar Gabriel eine Urkunde über 40-jährige Mitgliedschaft erhalten. Ich bin in die SPD eingetreten, weil sie die fortschrittlichste Außenpolitik machte, die beste Wirtschaftspolitik zu machen schien und weil sie für einen starken und modernen Sozialstaat stand. Diese Gründe bestehen fort. Wenn sich etwas geändert hat, dann nicht ich.

Andere Leute haben auch ihre Partei gewechselt.

Andere Leute heiraten auch viermal. Ich bin noch mit meiner ersten Frau verheiratet. Es muss schon schwerwiegende Gründe geben, eine Partei zu verlassen.

Eine Generalsekretärin, die sagt, man sollte Sie ausschließen, ist doch ein solcher Grund. Sie haben doch nicht nur Freunde in der SPD.

Ich habe viele Freunde in der SPD, die sich für mich eingesetzt haben. Nachdem das Parteiausschlussverfahren gegen mich gescheitert war, rief mich Sigmar Gabriel an und bat mich, die Streitaxt zu begraben. Daran habe ich mich bis heute gehalten und gedenke das auch weiterhin zu tun.

Glauben Sie, dass Sie auch ein bestimmtes Meinungsspektrum für die SPD erhalten?

Ich glaube, dass viele Menschen in Deutschland darauf achten, was Thilo Sarrazin tut.

Haben Sie je darüber nachgedacht, die Partei zu wechseln?

Man muss auch immer sehen, wie man die größte Wirkungsmacht erzielt. Ich glaube, dass meine Wirkungsmacht im Moment größer ist als in einer anderen Partei. Mit meinen Büchern greife ich über die Parteipolitik hinweg.

Könnten Sie widerstehen, wenn die AfD Ihnen den Posten des Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl antragen würde?

Als ich 2009 aus dem Berliner Senat ausschied, war ich 64 Jahre alt und hatte mit meiner politischen Laufbahn abgeschlossen. Dabei bleibt es auch.