Die meisten kennen ihn als wortgewandten Historiker, der oft in Talkshows zu sehen ist. Aber Michael Wolffsohn ist auch Eigentümer einer ganzen Gartenstadt im Wedding. Dort haben wir ihn getroffen.
Das ist seine Insel. Mit 49 Häusern, 490 Wohnungen und rund 1200 Mietern. Kein Graffiti verschmiert die Fassaden, die bis zum Parterre bordeauxrot und darüber in lichtem Grün an diesem sonnigen ersten Herbstnachmittag leuchten, keine Zerstörungen, die Vorgärten und Innenhöfe gepflegt. Und das mitten im Wedding zwischen Behm- und Bellermannstraße gegenüber dem Gesundbrunnencenter. Eine Berliner Ecke in diesem Problemkiez, die nicht auf Anhieb mit Ordnung und Sauberkeit in Verbindung gebracht wird. Die Gartenstadt Atlantic, ein Ensemble aus den zwanziger Jahren im Bauhausstil samt schmückenden Jugendstilelementen, ist nicht nur optisch eine Insel im Einerlei der schmutzig-grauen, modernen Mietskasernen aus den sechziger und siebziger Jahren der Nachbarschaft. Sie ist vor allem eine Insel, auf der Integration, gemeinsames verständnisvolles Wohnen und rücksichtsvolles Miteinander der Menschen aus verschiedenen Kulturen und Religionen Alltag ist.
Unterwegs im Familienerbe
Darauf ist Michael Wolffsohn besonders stolz. Die Gartenstadt ist sein Familienerbe. Vom Großvater licht und grün, geradezu provokativ wie sozial verpflichtet mitten hinein in den rotesten Arbeiterbezirk mit den dunkelsten Behausungen gesetzt. Vom Vater, dem die von den Nazis enteignete Wohnanlage nach dem Krieg erst nach jahrelangem Rechtsstreit wieder zugesprochen wurde, als ziemlich heruntergekommenes Ensemble geerbt, haben Michael Wolffsohn und seine Frau Rita die Gartenstadt in altem Glanz wieder erstehen lassen. Seit dem Jahr 2000 haben sie dafür eine mittlere zweistellige Millionensumme investiert und sich, ihre Kinder und wohl auch die Enkel verschuldet. „Wir fühlten uns nicht allein dem Familienerbe verpflichtet, auch dem Ziel, ein Zeichen zu setzen: dass Integration auch in schwierigstem Umfeld gelingen kann. Wie einst mein Großvater ein städtebauliches Beispiel setzte, wollen wir zeigen, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Gewohnheiten auch in schwierigem Umfeld sehr wohl harmonisch zusammenleben können.“
Schlank und drahtig
So ist aus dem Historiker, dem Professor an der Münchner Bundeswehr-Universität, dem Publizisten und streitbarem Diskutanten in Talkshows über Israel, den Nahen Osten oder die deutsch-jüdischen Beziehungen auch noch ein Wohnungsvermieter geworden. Den hole ich zum Spaziergang durch die Gartenstadt im Büro der Hausverwaltung in der Bellermannstraße ab. Wie sie denn geschafft hätten, ein integratives Wohnexempel zu statuieren, falle ich gleich mit der Tür ins Haus. Michael Wolffsohn, schlank und drahtig und weit jünger wirkend als seine 67 Lebensjahre, ist gewappnet. „Man muss die Mieterschaft steuern und dafür auch mal Leerstand in Kauf nehmen. Der entscheidende Grundsatz ist die richtige Mischung. Keine Lebensgewohnheit darf eine Dominanz haben. Dazu muss eine soziale Ausgeglichenheit kommen, Mieter mit unterschiedlichem Bildungs- wie Einkommensniveau. Das führt zu beiderseitiger Toleranz. Damit wächst ein Miteinander, ohne dass ein Rezept ausgestellt werden muss.“
Dass Deutsche, Türken und Araber, Christen, Muslime und Juden in der Gartenstadt vorleben, wovon die Quartiere ein paar hundert Meter weiter weit entfernt sind, hat natürlich noch ein paar mehr Gründe. Die Nähe zum überteuerten Prenzlauer Berg, die auch jüngere und besser verdienende Familien lockt, eine von Rita Wolffsohn organisierte Hausverwaltung, die für vergleichsweise moderate Mieten und Nebenkosten sorgt und zwei Haustechniker, die jederzeit mit Rat und Tat zur Stelle sind. Entsprechend lang ist die Warteliste, die gerade beschlossene Mietpreisbremse schreckt nicht. „Wir schreiben eine schwarze Null, unser Engagement hat sich in fast jeder Hinsicht gelohnt, allein im Sinne einer renditeträchtigen Investition nicht. Aber das wussten wir ja“, sagt Michael Wolffsohn.
Die Sache mit der Auschwitz-Keule
Der ist nicht nur Vermieter, sondern auch Chef der Lichtburg Stiftung, deren Programm flankierend die kulturelle, musische und sportliche Förderung der Kinder der Insel und der näheren Umgebung im Vorschulalter zum Ziel hat. Mit lobenswerter – was äußerst selten zu hören ist – Unterstützung der Schulverwaltung, von Hertha BSC, deren Wiege ein paar Meter weiter an der Plumpe stand, und seit kurzem auch durch den Boxstall Sauerland und dessen Weltmeister-Trainer Uli Wegner. „Beim Boxen“ , so der emeritierte Professor, gelten klare Regeln – das Training ist also für die Jugendlichen auch Training für’s Leben.“
Der Rundgang um die Insel ist beendet, wir sitzen in der Sonne auf der Terrasse vor dem Lichtburg Café-Restaurant bei einem Glas frisch gepresstem Orangensaft. Der Name Lichtburg verlangt endlich eine Erklärung. Großvater Wolffsohn war nicht nur Immobilieninvestor, vor allem Verleger, Filmpionier und Besitzer von mehreren Kinos. Lichtburgen, wie man früher sagte. Eine besonders große war Teil der Gartenstadt, wurde aber noch während des Restitutionsstreits Opfer des Berliner Nachkriegs-Kahlschlag-Bauprogramms.
Während Fotograf Reto Klar Michael Wolffsohn zu einem weiteren kurzen Foto-Shooting bittet, nutze ich die Gelegenheit zur Gegenrecherche. Ist in der Gartenstadt wirklich alles so integriert und friedlich, wie der Herr Professor erzählt? Orhan Baran nickt. „Es ist alles sehr gut. Ich bin seit fünf Jahren hier der Wirt. Alles ist friedlich, keine Gewalt, keine Kriminalität, kein Zwischenfall in all den Jahren. Ganz anders als jenseits der Straße da drüben. Wenn ich Fragen oder Probleme habe, hilft die Hausverwaltung.“ Und die Integration? „Kein Problem. Meine Mitarbeiter sind Deutsche, Türken, Spanier, Mexikaner, auch aus Sri Lanka. Ich bin Türke und mit einer Deutschen verheiratet, sie heißt Ramona Baran...“ Integration tatsächlich gelungen; zumindest auf Wolffsohns Insel.
Ein jüdischer Patriot
Michael Wolffsohn, in Tel Aviv geboren und 1954 als Siebenjähriger mit der Familie nach deren Flucht vor den Nazis nach Berlin zurückgekehrt, hat für sein Engagement noch einen tiefgründigeren Antrieb. „Ich engagiere mich als jüdischer Deutscher für dieses Land. Das verstehe ich unter Patriotismus.“ Als deutsch-jüdischer Patriot will er zugleich Anwalt und – wenn nötig – auch Verteidiger des neuen Deutschlands sein. Oft zum Leidwesen vieler Amtsjuden im In- und Ausland. Er gehörte etwa zur Minderheit der Juden, die sich schon vor 24 Jahren aus ganzem Herzen über die Wiedervereinigung Deutschlands freuen konnte. Und er tut es wieder am kommenden Freitag, dem Tag der Deutschen Einheit. „Es ist sensationell, wie die andere Integration, die zwischen Deutschen aus West und Ost gelungen ist. Wenn man das Selbstbestimmungsrecht für andere fordert, durfte es den Deutschen nicht verwehrt werden. Wenn Menschen frei werden, ist das für mich immer ein Grund zur Freude.“
Nicht nur der Zentralrat der Juden hat das damals ganz anders gesehen, hatte Angst vor einer zu starken Re-Nationalisierung und lehnte als Folge von Auschwitz die Wiedervereinigung ab. „Aber ich habe Recht behalten. Deutschland hat seine Vergangenheit gründlichst aufgearbeitet, Lehren daraus gezogen und zählt heute zu Recht zu einem der beliebtesten Staaten der Welt.“ Es ist kein Zufall, dass er es war, der für seine und andere Kritiker den Begriff „Auschwitz Keule“ erfand, mit der jede sachliche Auseinandersetzung um das deutsche Bemühen, die Schuld der Nazi- Verbrechen aufzuarbeiten, torpediert werde solle.
Mut und Verstand
Eine mutige Meinung unter vielen anderen, die ihm Vorwurf und Achtung zugleich eingebracht haben, zwischen allen Stühlen zu sitzen. „Ich erlaube mir nur das zu tun, was ein großer deutscher Philosoph viel schöner gesagt hat (gemeint ist Immanuel Kant, Anm. d. A.): Den Mut haben, sich seines Verstandes zu bedienen, nicht nachzuplappern, sondern selbst zu denken, vorausdenken und unabhängig denken.“ Der Historiker ohne Angst vor Tabu-Themen redet sich jetzt in einen wahren Begeisterungsrausch mit seiner ansonsten eher leisen Stimme hinein. „Das Abenteuer des Denkens besteht darin, dass man frei denken kann. Nicht alles, was gedacht werden kann, muss auch gemacht werden. Da gibt es immer neu zu bestimmende moralische und ethische Grenzen. Aber unabhängig zu denken bedeutet, für frische Luft zu sorgen...“ Auch sein Lachen klingt befreiend, ohne gefesselt zu sein. Es kündet von der Lust am Diskutieren; mit Freund wie Feind.
Nach kurzem Durchatmen und einem letzten Schluck Orangensaft fasst er sein Credo noch einmal zusammen: „Ich schau mir die Sache oder die Person an. Erst danach entscheide ich.“ Dann wird er konkret. Der Name Read Saleh fällt. „Den unterstütze ich, weil ich ihn mir als künftigen Regierenden Bürgermeister wünsche“. Ich stutze – ein deutscher Jude macht sich für einen in Palästina geborenen deutschen Muslim stark? Die Erklärung entspricht dem Wolfssohnschen Denken. Auf dem Höhepunkt des jüngsten Gaza- Kriegs, als islamische, jüdische und deutsche Emotionen hochschlugen, habe er mit Saleh in einer Talkrunde gesessen und das Schlimmste befürchtet. Aber dann das: „ Ich war begeistert, wie sachlich, fair und offen er diskutierte. Alles hatte Hand und Fuß, zeugte von großem Verantwortungsbewusstsein auch in heikelster Thematik. Berlin hat mehr Multinationalität und Multikonfessionalität als jede andere deutsche Stadt. Salehs Wahl wäre ein Signal, das gelebte Weltoffenheit dokumentiert, Weltoffenheit nicht nur als Phrase. Und ein wunderbares integratives Zeichen – ihr könnt aufsteigen, wenn ihr den Willen dazu habt..“
Wer soll Wowereits Nachfolger werden?
Ich bremse den Professor in seiner durchaus nachvollziehbaren Begeisterung für den Kandidaten, um noch ein weit heikleres Themen anzusprechen. Weniger für ihn als für die Deutschen schlechthin. Die deutsch-israelischen Beziehungen waren schon mal, um es vorsichtig zu formulieren, besser. Als habe er auf diese Frage gewartet, leitet er seine Antwort mit einer überraschenden Beobachtung ein: Das Bild, das in Israel von Deutschland vorherrscht, sei viel positiver als die Meinung, die die Deutschen von Israel haben.
Aber man müsse auch unterscheiden. Auf staatlicher Ebene seien die Beziehungen sehr gut, auch wenn es in einzelnen Fragen, etwa der Siedlungspolitik, mal krache. Viele Deutsche aber dächten anders als die Kanzlerin, die die Existenz Israels zum Teil deutscher Staatsraison erklärt hat. Seine Begründung: „Deutsche und Juden haben aus derselben Geschichten völlig unterschiedliche Lehren gezogen. Jeder vernünftige Deutsche sagt beim Stichwort Gewalt ‚nein danke’. Die Lehre der Juden ist eine ganz andere. Weil wir schwach waren und keine Gewalt anwenden konnten, wurden wir nicht nur im Holocaust, sondern in unserer ganzen dreitausendjährigen Geschichte verfolgt, vertrieben, ermordet. Israel ist zur Lebensversicherung für alle Juden geworden.“
Dennoch flüchten immer mehr junge Israelis zumindest vorübergehend vor dem Stress durch permanente Gewalt und Bedrohung; vorzugsweise nach Berlin. Das sei doch ganz natürlich, sagt Michael Wolffsohn beim Abschied. „In Berlin kann man ohne Angst Party machen. Berlin ist total frei und unbedroht. Aber Berlin lockt auch als Stadt einstigen Grauens. Heute wird gefeiert und getanzt, wo einst über den Tod der Vorfahren entschieden wurde. Das kommt einer Art Auferstehung der Toten gleich.“