Fehlende Erzieher

Berlin schickt Akademiker erst in die Schule und dann in die Kita

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Annette Kuhn

Foto: Amin Akhtar

Nach einer Bertelsmann-Studie fehlen derzeit in Berlins Kitas 10.000 Erzieher. Mit einem bundesweit einzigartigen Projekt sollen jetzt ausländische Fachkräfte für den Beruf qualifiziert werden.

Vier Jahre Studium waren auf einmal nichts mehr wert. Es war hart, als Nadja Scheve hören musste, dass ihr Hochschulabschluss als Musiklehrerin in Deutschland nicht anerkannt wird. Zu speziell sei ihr Studium, zu groß die Unterschiede in der Pädagogik, zu schlecht ihr Deutsch. Vor 16 Jahren kam die Weißrussin nach Berlin, der Liebe wegen. Sie hatte gehofft, auch hier als Musiklehrerin arbeiten zu können. Aber daraus wurde erst einmal nichts.

Die Enttäuschung darüber wollte sie nicht zulassen. „Ich habe damals die Situation verdrängt, mich ganz auf meine Familie konzentriert, sonst wäre es schwierig gewesen, das auszuhalten.“ Auszuhalten, dass sie nun nicht in einer Musikschule arbeitete, sondern mal als Reinigungs-, mal als Tresenkraft arbeiten muss. Im Hinterkopf blieb bei ihr jedoch der Wunsch, irgendwann wieder musikpädagogisch zu arbeiten, am liebsten mit Kindern in der Kita. Er kann jetzt endlich Wirklichkeit werden.

Wenn in einer Woche das neue Schuljahr beginnt, wird Nadja Scheve jeden Tag von ihrer Wohnung in Friedrichshain zur Anna-Freud-Schule in Charlottenburg fahren. An dieser Fachschule für Sozialpädagogik startet ein deutschlandweit neues Projekt zur Erzieherausbildung für Akademiker mit einem ausländischen Hochschulabschluss im Bereich Sozialwesen. Unterstützt wird es auch von der Gesellschaft für Interkulturelles Zusammenleben, die den Schülern die Zusatzqualifikation zum interkulturellen Trainer, eine Deutschförderung und Lernberatung bietet. Wenn die Akademiker dann die Prüfung zum staatlich anerkannten Erzieher bestanden haben, ist ihnen ein Arbeitsplatz so gut wie sicher.

10.000 Erzieher in Berlin gesucht

Erzieher werden in Berlin dringend gesucht. Die Senatsbildungsverwaltung geht davon aus, dass aktuell 1000 Fachkräfte in Kitas gebraucht werden. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung vom Juli dieses Jahres wird der Bedarf sogar auf 10.000 Erzieher geschätzt, bezogen auf den Personalschlüssel, den die Experten der Stiftung empfehlen und nach dem ein Betreuer für drei Kinder zuständig sein sollte. Deutschlandweit, so das Ergebnis der Studie, fehlen 120.000 Erzieher.

Gesucht werden in Berlin auch pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund. „Hier besteht großer Nachholbedarf“, sagt Britta Marschke von der Akademie für innovative Pädagogik, die das Ausbildungsprojekt mitentwickelt hat und nun auch wissenschaftlich begleiten wird. Bislang seien sie in den Kita-Kollegien unterrepräsentiert, dabei gebe es hier immer mehr Kinder mit ausländischen Wurzeln. Erzieher mit Migrationshintergrund würden einen wichtigen Beitrag zu Integration und Sprachförderung leisten. Für Kinder und vor allem auch für ihre Eltern, die aus einem anderen Land nach Deutschland gezogen sind, bauen sich mögliche Hemmschwellen viel schneller ab, wenn sie in der Kita auf Pädagogen treffen, mit denen sie sich in ihrer Sprache verständigen können und die ihren kulturellen Hintergrund kennen.

Das hat auch Nadja Scheve erlebt. Sie arbeitet heute als Erzieherhelferin in einer interkulturellen Kita, die vor allem von Kindern aus osteuropäischen Ländern besucht wird. Schon oft hat der 41-Jährigen geholfen, dass sie nicht nur Deutsch, sondern auch Polnisch und Russisch spricht. „Gerade wenn ein Kind neu in die Kita kommt, sich fremd fühlt und kein Wort versteht, ist das schwierig für die Eingewöhnung“, hat sie beobachtet. „Da hilft es sehr, wenn jemand seine Muttersprache beherrscht.“

Die neue Ausbildung dauert zwei Jahre und ist inhaltlich mit der regulären Erzieherausbildung, die sich über drei Jahre erstreckt, vergleichbar. „Die Lerninhalte wurden allerdings komprimiert, weil die Schüler ja bereits eine pädagogische Vorbildung mitbringen“, erklärt Britta Marschke. Die Reduzierung auf zwei Jahre war wichtig, sagt sie, weil die Schüler über längstens 24 Monate Transferleistungen beziehen können. Bei einer längeren Ausbildung müssten sie sich ihren Lebensunterhalt über die zwei Jahre hinaus selbst finanzieren.

Viele Bewerber haben ein Lehramtsstudium

Auch bei der bisher schon angebotenen berufsbegleitenden Qualifizierung sind die angehenden Erzieher verpflichtet, mindestens 20 Stunden in der Woche zu arbeiten. „Das können viele mit Familie gar nicht leisten, weil sie oft schon eine eigene Familie haben und dann Arbeit, Ausbildung und Kinder nicht unter einen Hut bekommen“, so Britta Marschke. Die Abbrecherquote sei daher bislang sehr hoch. Bei der sogenannten Nichtschülerprüfung, bei der sich Anwärter außerhalb der Schule den Lernstoff aneignen müssen, liegt die Durchfallquote sogar bei 70 Prozent.

Für Nadja Scheve wären die bestehenden Angebote zur Erzieherausbildung keine Option. Sie ist heute alleinerziehende Mutter zweier Kinder. „Ich muss ja auch für meine Kinder da sein und kann nicht nach der Schule jeden Abend noch arbeiten gehen“, sagt sie. Die „Schnellläuferklasse“ für Akademiker an der Anna-Freud-Schule ist für 25 Schüler vorgesehen, noch gibt es freie Plätze. Bisher haben sich vor allem Frauen beworben, aber auch zwei Männer sind dabei. Zum Beispiel ein Lehrer für Mathematik und Biologie aus dem Irak.

Ein Großteil der künftigen Schüler kommt aus Osteuropa, andere stammen aus der Türkei und dem arabischen Raum. Die meisten haben in ihrem Heimatland ein Lehramtsstudium absolviert, und Viele wurden über die Arbeitsagentur auf die Ausbildung aufmerksam gemacht. Sie trägt das Projekt gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Bildung, die auch eine zusätzliche Lehrerstelle für die Klasse bewilligt hat. Eine Anschubfinanzierung kam von der Initiative „Anschwung für frühe Chancen“ des Bundesfamilienministeriums.

Nadja Scheve sieht in der neuen Erzieherausbildung eine große Chance, einen festen Arbeitsplatz in ihrem Wunschberuf zu bekommen – und dabei endlich die Kompetenzen einzubringen, die sie durch ihr Studium in Weißrussland bereits hat. Auch ihre beiden Kinder finden es gut, dass ihre Mutter nun auch jeden Tag zur Schule gehen muss. „Dann musst du auch Hausaufgaben machen“, hat der zehnjährige Sohn sie allerdings schon gewarnt.