Mit oder ohne Kippa? Nach antisemitischen Vorfällen bei Gaza-Protesten fragen sich Berliner Juden, ob sie sich als solche zu erkennen geben sollen. Zu ihnen gehört auch Kantor Amnon Seelig.
Amnon Seelig kauft den Hummus heute vorsichtshalber an einem anderen Stand. Besucher hat er sonst immer zu dem Wagen um die Ecke geführt, zum „besten Falafelladen im Wedding“, wie er findet. Doch als er neulich dort vorbeiging, hatte der Besitzer einen bestickten Schal aufgehängt. Die Umrisse Israels sind darauf zu sehen, aber Tel Aviv, wo seine Eltern wohnen, existiert auf dieser Karte nicht. Alle Ortsnamen sind auf Arabisch geschrieben. „Wir werden gewinnen“, steht darüber. Ein Palästina ohne Juden.
Seelig arbeitet als Kantor in verschiedenen Berliner Synagogen. Um den Hals trägt er eine Kette mit Davidstern, auf dem Kopf Kippa. „Ich möchte keine unangenehme Situation provozieren“, sagt der 32-Jährige. Vielleicht sei seine Befürchtung überzogen, schiebt er nach. Vielleicht würde der Verkäufer ihn wie gewohnt freundlich empfangen.
Aber seit der Nahost-Konflikt vor vier Wochen eskalierte, bei Demonstrationen in Berlin „Jude, Jude, feiges Schwein“ skandiert und ein Kippa tragender Israeli und seine Frau attackiert wurden, hat Seelig eine Schere im Kopf. Er mustert die Menschen um sich herum, überlegt vor jedem Schritt, ob er sicher ist, schränkt seine Bewegungsfreiheit selbst ein.
Böse Blicke im Multikulti-Kiez
Den Hummus fürs Abendessen holt er jetzt also in einem libanesischen Geschäft. Vor der Tür raucht einer der Mitarbeiter eine Zigarette. Er mustert Seelig von oben bis unten, schaut ihm lange hinterher. „Der guckt aber böse“, sagt Seelig. Solche Blicke habe er hier noch nie gespürt. Ob sie tatsächlich ihm gelten, ist schwer zu sagen. Doch er bezieht sie klar auf sich.
Seelig ist in München geboren. Als er zwei Jahre alt war, zogen seine Eltern zurück nach Israel. Beide sind Musiker, der Sohn hat ihr Talent geerbt. Nach dem Tonsatz- und Gesang-Studium in Jerusalem entschied er, nach Deutschland zu gehen, wo die Karrierechancen für Musiker größer sind. Deutsch hat er von seiner Großmutter gelernt, einer Berliner Jüdin, die in den 30er-Jahren ins damalige Palästina floh. Damals gab es den israelischen Staat noch nicht. Seelig besitzt beide Pässe, den israelischen und den deutschen.
Seit 2009 lebt er in Berlin, hier hat er seine Frau kennengelernt, auch sie ist Jüdin. Sie wohnen im Sprengelkiez in Wedding, weil die Mieten dort günstig sind und sie die multikulturelle Atmosphäre mögen. In die Kita ihrer dreijährigen Tochter gehen einige muslimische Kinder. Die Eltern kennen und verstehen sich gut, viele sind auf Facebook befreundet.
In der letzten Zeit verfolgen die Seeligs die Statusmeldungen ihrer Facebook-Freunde mit ungutem Gefühl im Bauch. Neben Urlaubsfotos tauchen neuerdings Karikaturen und Videos auf. Antiisraelische Propaganda, sagt Seelig. Einiges von dem Material sei bösartig.
Sorge vor Welle des Antisemitismus
Der Nahost-Konflikt im deutschen Kindergarten. Er wisse nicht, wie er den anderen Eltern begegnen solle, wenn sie aus den Ferien wiederkommen, sagt Seelig. Seine Mutter hat ihn aus Tel Aviv angerufen, sie hat Bilder im Fernsehen gesehen von den antiisraelischen Demonstrationen, dem Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal. Sie fürchtet eine neue Welle des Antisemitismus in Deutschland. „Fallt bloß nicht auf“, hat sie zu ihm gesagt, und dass er mit der Kindergärtnerin sprechen solle. Die müsse jetzt aufpassen, dass die anderen Kinder ihrer Enkeltochter nichts tun. Seelig winkt ab. „So paranoid bin ich nicht.“
Andererseits merkt er, dass die Nachrichten auch ihm zusetzen. Seelig trägt seine Kippa normalerweise auf dem Weg zu und von der Arbeit. Nun überlegt er, ob er sie besser nur in der Synagoge aufsetzen soll. Die Kette mit dem Davidstern hat er immer um, seit er nach Deutschland gezogen ist. Weil das seine Identität sei, sagt er. Und er zeigen will, dass es noch Juden gibt in Deutschland. Neulich saß er in der U-Bahn, da stieg ein junger Mann dazu, der ein T-Shirt mit Palästina-Flagge trug. Instinktiv fasste sich Seelig an den Hals. Sollte er seinen Davidstern lieber unter das Hemd stecken? Er entschied, es nicht zu tun. Der Mann schaute auf sein Handy und beachtete ihn nicht. Ist seine Sorge also übertrieben?
Diese Frage stellen sich gerade viele Juden in Berlin. Aber lässt sich darauf überhaupt eine objektive Antwort formulieren? Wir haben uns bei Gemeindemitgliedern in verschiedenen Stadtteilen umgehört. „Wegen der aufgeheizten Stimmung keine Kippa mehr zu tragen, kommt jedenfalls nicht in Frage“, sagt Yehuda Teichtal, Rabbiner der Synagoge an der Münsterschen Straße in Wilmersdorf. Einige seiner Bekannten hätten diesbezüglich Bedenken geäußert. Als er neulich mit seinen Kindern in Charlottenburg unterwegs war, sei er aus einem vorbeifahrenden Auto beschimpft worden. Davon will sich der Rabbiner aber nicht unterkriegen lassen.
Warnung durch die Polizei
Ein 30 Jahre alter Amerikaner, der seit zwei Jahren in Berlin lebt und seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, weil er sich „zu dem Thema nicht exponieren will“, wurde auf dem Heimweg von der Synagoge in der Rykestraße angepöbelt. Ein Mann, der gerade seinen Lastwagen entlud, habe ihn auf mehreren Sprachen angeschrien. Erst habe er sich nicht angesprochen gefühlt, aber das „fuck you“ verstand er dann. „Der Hass in seinen Augen hat mir richtig Angst gemacht“, sagt er. Und dass das nicht im Kontext einer ohnehin aggressiv gestimmten Demonstration geschah. Sondern dass ein Mensch im Alltag seine Arbeit unterbrach, um ihm auf der Straße hinterherzubrüllen.
Ein junger Israeli, der vor drei Wochen nach Mitte gezogen ist, erzählt, wie ihn zwei Polizisten ansprachen und ihm rieten, besser einen anderen Weg zu gehen, weil er gerade auf eine Demonstration gegen den Gaza-Krieg zulaufe. Ein Autor der „Jüdischen Allgemeinen Zeitung“ sagt, dass seine religiösen Freunde derzeit aus Angst nicht mit Foto in der Zeitung erscheinen möchten und die Kippa draußen vorsichtshalber unter einer Baseballkappe versteckten. Zu dieser Maßnahme hatte das Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam, das Rabbiner und Kantoren ausbildet, seinen Schülern bereits 2012 geraten.
Rabbiner Friedenau verprügelt
Damals hatte eine Gruppe arabischstämmiger Jugendlicher den Rabbiner Daniel Alter in Friedenau verprügelt. Der Antisemitismus-Beauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin hatte danach Teile von Wedding und Neukölln mit einem hohen Anteil von arabischen und türkischen Migranten zu No-Go-Areas für öffentlich erkennbare Juden erklärt. Alter trägt seine Kippa nur noch unter einer Baseballkappe. Ob man sie noch unverdeckt zeigen wolle, müsse jeder für sich entscheiden, sagt er. Er halte es allerdings für einen Trugschluss, dass dies momentan gefährlicher sei als sonst: „Das latente Risiko, mindestens verbal angegriffen zu werden, bestand auch schon vor der aktuellen Eskalation im Nahen Osten. Davor war es nur nicht so offensichtlich.“
Am Fraenkelufer in Kreuzberg kommen am Tag vor Tischa beAv, dem jüdischen Fast- und Trauertag, an dem der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gedacht wird, ein Dutzend Menschen zum Gottesdienst zusammen. Die Männer setzen die Kippa erst in der Synagoge auf. Nicht aus Sicherheitsbedenken, das sei bei ihnen einfach so üblich, sagt ein junger Mann. Von der Synagoge kann man nach Neukölln schauen, zum Kottbusser Damm, den regelmäßig propalästinensische Demonstranten mit Trommeln entlangziehen.
Vor dem Tor stehen zwei Polizisten, zusätzlich kontrollieren zwei private Sicherheitsleute den Eingang, mit Pistolen im Hosenbund. Die Sicherheitsmaßnahmen seien nicht erhöht worden, es habe in letzter Zeit keine besonderen Zwischenfälle gegeben, sagen sie. Ein Gemeindemitglied berichtet jedoch von einer Beobachtung der Hausmeisterin, die auf dem Gelände lebt: In den vergangenen Wochen habe beinahe täglich jemand vor dem Zaun gestanden und etwas Judenfeindliches gebrüllt.
Facebook-Gruppe gegründet
Nina Peretz ist Mitglied der „Freunde des Fraenkelufers“, ein lockerer Kreis, der sich nach dem Gottesdienst zum gemeinsamen Tora-Studium trifft. Die Gemeinschaft hat eine Facebook-Gruppe, und in der postete sie neulich Ort und Zeit des nächsten Treffens. Daraufhin schrieben ihr mehrere Bekannte zurück, dass sie das bitte unterlassen solle, man mache sich Sorgen wegen des Sicherheitsrisikos. „Darüber habe ich nie nachgedacht“, sagt Peretz. Nun ist sie doch verunsichert. Wenige Stunden nach dem Gespräch schreibt sie noch einmal eine E-Mail, dass man auf keinen Fall Informationen über den Ort der Treffen veröffentlichen solle. Gleichzeitig möchte sie die Bedenken auch nicht zu hoch schrauben.
„Das bedeutet nicht, dass wir in ständiger Angst und Sorge leben, das möchte ich gern noch einmal betonen“, schreibt die Jüdin. „Wir leben sehr gern in Kreuzberg/Neukölln und fühlen uns hier zu Hause, mit unseren Nachbarn aus aller Welt.“ Gegenüber, in der Graefestraße am anderen Ufer des Landwehrkanals, wurde im Frühjahr ein junger Israeli von arabischstämmigen Jugendlichen verprügelt. Am nahen Hermannplatz seien kürzlich zwei israelische Gemeindemitglieder beschimpft worden, die sich auf Hebräisch unterhielten, sagt Peretz. Beide Vorfälle seien aber vorwiegend anti-israelisch motiviert gewesen, nicht unbedingt antisemitisch.
Amnon Seelig findet diese Unterscheidung schwierig. „Wenn ich Kippa trage auf der Straße und dann böse angeschaut werde, weil vermutet wird, ich bin Israeli und damit Kriegstreiber, wo ist dann noch die Grenze? Da beginnt doch Antisemitismus, wenn Juden automatisch für etwas stehen.“ Besonders absurd findet er, dass sogar seine in Berlin geborene Frau für Dinge angefeindet werde, die in Israel geschehen.
Das Gefühl, sich für etwas rechtfertigen zu müssen, für das er selbst nicht einstehen kann, überkommt Seelig immer öfter. Am Al-Kuds-Tag, bei dem gewöhnlich gegen die Besatzung Jerusalems durch Israel protestiert wird, ist er dieses Jahr auf eine proisraelische Gegenveranstaltung gegangen. „Schweren Herzens“, sagt Seelig, weil er die israelische Politik sonst stets kritisiere. Weil er als Liberaler die konservative Regierung in Jerusalem nicht unterstütze. Weil er für ein Ende des Krieges und eine Zwei-Staaten-Lösung sei. Aber diesmal, sagt er, wollte er gegen die befürchteten antisemitischen Ausfälle ein Zeichen setzen.
Nachbarn oder Feinde
Als sich die Demonstranten auf dem Kurfürstendamm begegneten, kam ein älterer Deutscher auf ihn und seine Familie zu. Israels Premierminister sei schlimmer als Hitler, was die Juden in Gaza machten, sei schlimmer als bei den Nazis, sagte der. Seelig sagte nichts. „Was hätte ich darauf entgegnen sollen?“
Gegenüber seiner Wohnung in Wedding ist ein Café, in das er gerne geht. Der Musiker ist dort bereits mit seinem A-cappella-Quartett aufgetreten, den Geschäftsführer kennt er gut. Er hat palästinensische Wurzeln, manchmal unterhalten sie sich auf Arabisch, die Sprache hat Seelig in der Schule gelernt. Seit der Demonstration ist er nicht mehr dort gewesen. Er hat Angst, dass sie jetzt nicht einfach mehr gute Nachbarn sind. Sondern Israeli und Palästinenser. Jude und Muslim. Feinde.
Heute nimmt er seinen Mut zusammen und geht auf einen Kaffee rüber. „Amnon“, ruft der Nachbar, als er ihn sieht. „Wann machst du deinen nächsten Auftritt bei mir?“ Seelig lächelt. Wegen solcher Begegnungen hat er bisher gerne in Wedding gelebt. Weil sie ihn glauben ließen, dass der Krieg ganz weit weg ist, dass friedliches Zusammenleben funktionieren kann. Er hofft, dass er diesen Glauben bald wiederfindet.