Die Rote Insel in Schöneberg war einst ein Hort des Widerstands. Heute ist sie beliebte Wohngegend für Familien. Und vier Bahnhöfe hat sie noch dazu. Ziemlich gut für eine Insel.
Die Suche nach dem Rot. Sie beginnt an einem schönen sonnigen Abend im Juni in einem dunklen, stickigen Raum. In der Geschichtswerkstatt in Schöneberg riecht es muffig. Alte Bücher, alter Teppich, der Schweiß dieses Frühsommertages. Zur selben Zeit spielt die deutsche Nationalmannschaft ihr erstes Spiel der Fußballweltmeisterschaft. Vier zu null gegen Portugal. Dennoch sitzen die Zuhörer dicht an dicht auf hölzernen Klappstühlen. Ziviler Widerstand lautet das Thema des Abends, zu dem die Geschichtswerkstatt und ein Arbeitskreis des Stadtteilvereins Schöneberg eingeladen haben.
Es geht um Julius Leber, den Mann, nach dem eine Straße, eine Brücke und ein S-Bahnhof benannt sind – Orte auf der Roten Insel im Nordosten Schönebergs. Auf dieser Berliner Insel, die nicht von Wasser umspült wird, sondern aus der Anordnung der Bahngleise entstanden ist, die sie umgeben, und die einmal eine Insel des roten Widerstandes war. Julius Leber ist ihr prominentester Kämpfer.
Er gehörte zum engen Kreis um Claus Schenk Graf von Stauffenberg, und er hätte, wäre das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 geglückt, neuer Innenminister werden sollen. Nicht weit entfernt von der Geschichtswerkstatt, in der Torgauer Straße, arbeiteten Leber und seine Frau Annedore in einer Kohlenhandlung, hinten hielt er konspirative Treffen ab. Leber war Inselbewohner, Sozialdemokrat, Widerständler. „Ich habe manchmal das Gefühl, wir sind hier in einer Provinzposse“, sagt Gisela Menzel vom Stadtteilverein. Einige nicken der Frau mit dem kurzen grauen Haar zu, ein Mann ist eingeschlafen.
Arbeitskreis will Gedenkort
Seit Jahren will der „Arbeitskreis Lern- und Gedenkort Annedore und Julius Leber“ dort, wo die Kohlenhandlung zwar nicht mehr steht, dafür aber das kleine heruntergekommene Haus, das seine Frau Annedore nach dem Krieg auf den Grundmauern der einstigen Kohlenhandlung wieder aufbauen ließ, einen Gedenkort schaffen. Doch der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hat Angst vor zu hohen Kosten. Genug Stoff für eine Posse. Es regt sich Widerstand auf der Insel. Früher war sie dafür bekannt, heute eher für das Gegenteil. Eigentlich sind die heutigen Inselbewohner fast schon schläfrige Zeitgenossen, sagt Ulf Schumann. Es ist ein Kompliment. Alles geht hier einen gemächlicheren Gang als in anderen Teilen der Stadt.
Widerstandsgeist? „Kann ich gar nicht so genau sagen.“ Schumann schreibt seit fünf Jahren einen Blog über die Rote Insel, aus seinem Fenster blickt er auf die ehemalige Kohlenhandlung. Er schätzt die festgewachsenen Strukturen auf der Insel. Es leben Studenten, junge Familien, Migranten und Alteingesessene zusammen. Ganz unaufgeregt. Natürlich gibt es die „Bio-Insel“ an der Kolonnenstraße und das ein oder andere Lädchen, das sich Manufaktur nennt. „Aber es ist nicht so wie in Prenzlauer Berg oder Kreuzberg.“ Nicht hip also. Und Rot? Eher Grün. Bei der Europawahl im Mai holten auf der Roten Insel die Grünen die meisten Stimmen.
Mit der Lebensmittelkarte ins Geschäft
Ein anderer Schumann hat eine etwas längere Inselgeschichte zu erzählen. Klaus Schumann ist Jahrgang 1937 und an der Gustav-Müller-Straße 36 im Süden der Insel aufgewachsen. Die Eltern waren Sozialdemokraten, er wählt bis heute die SPD. In der Nummer 36 wird gebaut. „Irgendwas Exklusives“, sagt Schumann und betritt mit seinen nachtblauen weichen Lederschuhen den staubigen Hauseingang. Junge verschwitzte Bauarbeiter blicken neugierig, als der alte Herr von seiner Kindheit erzählt. Unten drin, wo jetzt eine großes Loch in der Fassade klafft, hatte Frau Erhardt ihr Geschäft. „Mit der Lebensmittelkarte bin ich dann immer hin“, erzählt der Modeschneider. An der Rückseite des ehemaligen Lebensmittelgeschäfts befindet sich eine Tür. Sie führte einmal in die Privaträume von Frau Erhardt.
Die Rote Insel aus Klaus Schumanns Kindheit war eine geschäftige, enge und politische. Bei Nikotowski kaufte man Haarwasser, bei Frau Priwe gab es Milch, Eier, Käse und Butter und im Kolonialwarenladen von Gerigke gab es den echten Kaffee aus Übersee. Die Kinder spielten auf der Straße, man hatte Untermieter in den ohnehin schon engen Wohnungen und in den Kneipen an den Ecken trafen sich Kommunisten und Sozialdemokraten um über Politik zu diskutieren. Man lebte unter sich, es war eine eingeschworene Gemeinschaft, die sich lange auch gegen die erstarkenden Nationalsozialisten wehren konnte.
Bierverleger Bekker flaggte einst Rot
Heute ist es ruhig auf den Straßen. Die Geschäfte sind verschwunden, man wohnt hier. Und was ist übrig von dem politischen Rot, das die Straßen zwischen den S-Bahnhöfen Schöneberg, Südkreuz (früher Papestraße) und Yorckstraße seit der Weimarer Republik geprägt hat und der Insel in Form eines Segels ihren Namen gegeben hat? Die Geschäftsstelle der Linkspartei an der Feurigstraße heißt Rote Insel, ein linkes Wohnprojekt an der Mansteinstraße auch. Das ist das Offensichtliche. Aber genau genommen falsch, da beide Orte nur haarscharf an die Insel grenzen.
Und es gibt eine Legende. Zu einer Zeit, als Deutschland noch einen Kaiser hatte und Deutsches Reich hieß, kam Wilhelm I., der Kaiser, 1879 von einem mehrmonatigen Kuraufenthalt zurück nach Berlin. Die Menschen sollten ihre schwarz-weiß-roten Reichsflaggen hervorholen und Wilhelm begrüßen. Doch der Bierverleger Bekker, ein Sozialdemokrat, flaggte in der damaligen Sedanstraße, heute Leberstraße, rot. Nur wenige Wochen, nachdem das Sozialistengesetz in Kraft getreten war. Die Insel wurde eine rote.
135 Jahre später an einem Abend im Juli sitzen in der Kneipe „Harmonie“, Cheruskerstraße Ecke Leuthener, drei Kommunisten. „Es gibt keine personelle Kontinuität“, sagt Jörg Stoll. Sie hätten nichts mit den Kommunisten und Sozialdemokraten zu tun, die den Namen der Insel mitgeprägt haben. Jörg Stoll, Norun Speckmann und Gert Julius sind einsame Kämpfer. 25 Mitglieder hat die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Tempelhof-Schöneberg. In ganz Berlin sind es etwa 170. Der Verfassungsschutz beobachtet sie, weil sie das kapitalistische System, das ein „barbarisches“ ist, abschaffen wollen. „Wir sind der Meinung, man kann in diesem System nichts Grundsätzliches verändern“, sagt Stoll.
Rote Lady aus Norwegen
Wenn sie an den Wochenenden ihren Stand aufbauen, kämen die Menschen und würden sagen: „Mensch, euch gibt es noch?“, erzählt Norun Speckmann, die kleine Frau mit dem Pagenkopf, die 1970 aus Norwegen nach Berlin kam und die auf der Arbeit von ihren Kolleginnen die Rote Lady genannt wurde.
Rote Lady auf der Roten Insel. Als sie in der „Harmonie“ anfragte, ob die Deutsche Kommunistische Partei alle zwei Wochen einen Stammtisch abhalten könnte, sagte der Besitzer sofort zu. „Die sind hier nicht kommunistenfeindlich“, sagt Norun Speckmann mit einem weichen Akzent und muss lachen. Dass die Kneipe Anfang des 20. Jahrhunderts, als sie noch Schlossbräu-Gaststätte Herold hieß, ein fester Treffpunkt der Sozialisten der Roten Insel war, wissen selbst die drei Kommunisten nicht. Damals war die Fassade noch geschmückt mit Jugendstilstuck. Es soll sogar noch ein Hinterzimmer geben, in dem die Flugblätter gedruckt wurden.
Geburtshaus von Marlene Dietrich
An dieser Straßenecke, an der die Häuser heute sauber verputzt sind und junge Familien in gediegenem Altbau mit kleinem Balkon wohnen, war in den 20er- und 30er-Jahren ein Hort des roten Widerstandes. Man erzählt, dass Blumentöpfe geflogen seien, wenn die SA-Truppen versuchten, in das Viertel einzudringen. Durch die Insellage fehlte den Männern auch die Fluchtmöglichkeit. Sie wagten sich nur überfallartig auf die Insel, in großen Gruppen und mit schweren Waffen.
Der brutalste dieser Überfälle ereignete sich wohl im September 1929 im Lokal „Emil Potratz“ an der damaligen Sedanstraße 53, heute Leberstraße, als mehr als hundert „Hitler-Strolche“, wie eine Zeitung damals schrieb, den Treffpunkt der Kommunisten zerstörten, die Scheiben einschlugen und Schüsse abfeuerten.
Heute ist von einem Lokal nichts mehr zu erkennen, dafür erinnert eine Gedenktafel an die berühmte Tochter der Insel: Marlene Dietrich wurde 1901 in eben jenem Haus geboren.
Am Ende der Leuthener Straße, die sich mit der Gustav-Müller-Straße kreuzt, reckt sich der 78 Meter hohe Gasometer in den Himmel, das Wahrzeichen der Insel. Klaus Schumann hat wenige gute Erinnerungen an das riesige Stahlgerüst, das 1913 in Betrieb genommen wurde. „Wir haben uns als Kinder so davor gegruselt. Besonders in der Dunkelheit“, erzählt er. Eigentlich sollte der Gasometer schon einige Jahre früher den Betrieb aufnehmen. Doch der Widerstand der Inselbewohner kam dazwischen – mal wieder. So ein riesiges mit Gas gefülltes Stahlmonster wollten sie nicht vor ihrer Wohnungstür haben.
Seit dem Jahr 1994 ist der Gasometer, aus dem allsonntäglich die Talkshow von Günther Jauch gesendet wird, jedenfalls wenn keine Sommerferien sind, nun abgeschaltet. Diesmal wünschten sich die Bewohner jedoch, dass dieses Stück Industriegeschichte erhalten bleibt, und setzten sich für eine Restaurierung durch den neuen Eigentümer ein, auch die DKP beteiligte sich an der kleinen Bürgerinitiative. Doch der Eigentümer lässt sich Zeit. Und die Bürgerinitiative wirft längst keine Blumentöpfe mehr.