500 laufende Meter Schriften, 160.000 Fotos, 5000 Filme: Das Archiv der DDR-Oppostion besitzt die größte Sammlung von Zeugnissen des Protests gegen die SED-Diktatur. Gauck dankte nun den Machern.
Ein geschichtsträchtiges Datum hatte sich Bundespräsident Joachim Gauck für seinen ersten Besuch des Archivs der DDR-Opposition in der Robert-Havemann-Gesellschaft ausgesucht. Am 17. Juni, dem Jahrestag des Volksaufstands in der DDR, ließ er sich von Geschäftsführer Olaf Weißbach die einzigartige Sammlung von Dokumenten zum Widerstand gegen SED und Staatssicherheit, zu Umweltgruppen und kirchlichen Initiativen zeigen und erläutern. Begleitet wurde er von Ulrike Poppe, Bürgerrechtlerin der Wendezeit und heute Brandenburger Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur.
„Ich bin froh und dankbar. Wir treffen hier Menschen, die unter anderem das sammeln und dokumentieren, was es schon in frühen Zeiten der DDR an Widerständigkeit, Mut und Zivilcourage gegeben hat“, sagte Gauck nach dem Rundgang. In Deutschland sei es wichtig, über Menschen zu sprechen, die Zivilcourage wagen. „Das ist nicht so selbstverständlich. Man schwimmt gerne im Strom. Und Menschen, die ein eigenes Lebenskonzept haben und die Werte vertreten, die gerade nicht mehrheitsfähig sind, haben es immer schwer. Wir brauchen in Deutschland die Erinnerung an solche Menschen, an verschiedenen Stellen“, betonte der Bundespräsident.
Sehr beengte Räume
Das Archiv der DDR-Opposition an der Schliemannstraße 23 in Prenzlauer Berg besitzt die größte und bedeutendste Sammlung von Zeugnissen des Protests gegen die SED-Diktatur. Rund 500 laufende Meter Schriften, 160.000 Fotos, 5000 Videofilme, 400 Audiokassetten und Originalobjekte aus der Zeit von 1945 bis 1992 belegen eindrucksvoll, dass es Widerspruch und Widerstand in der DDR zu allen Zeiten gegeben hat. Der Bedeutung des Archivs entsprechen die sehr beengten Räume allerdings in keiner Weise. Es ist über drei Etagen verteilt in einem Hinterhaus untergebracht, dort etwa eine Ausstellung zu zeigen, ist nicht möglich.
Im ersten Archivraum zeigt Weißbach dem Bundespräsidenten eine Kiste mit drei Zigarettenschachteln aus der UdSSR der frühen 50er-Jahre. Sie gehörte einst Roland Bude. Der Student aus Rostock wurde 1950 wegen „antisowjetischer Hetze“ als Zwangsarbeiter ins berüchtigte sibirische Straflager Workuta gebracht und war dort bis 1955 inhaftiert. Ende Juni 1953 kam es im Lager zu einem Aufstand, der durch Stalins Tod gut drei Monate zuvor und schließlich durch die massiven Proteste in der DDR ausgelöst wurde. Gauck folgt Budes Geschichte bewegt: Zum einen kam der Student, der mutig gegen die SED opponiert hatte, aus Gaucks Heimatstadt. Zum anderen war Gaucks Vater ebenfalls lange in Sibirien inhaftiert, im Juni 1953 wusste die Familie nicht einmal, ob er noch am Leben ist.
Die zweite Station des gut einstündigen Besuchs des Bundespräsidenten gilt dem Fotoarchiv. Weißbach und seine Mitarbeiter haben dort eine Auswahl ausgelegt, die einen Bogen von den Fünfziger- bis in die frühen Neunzigerjahre spannt. Das Zimmer ist klein, Archivschränke füllen es fast komplett aus. „Demos A–B“, „Demos C–G“, „Porträts“, „Arbeitswelt“ – jede Schublade ist sorgsam beschriftet. Aufmerksam schaut sich Gauck die Fotos an.
Wahlplakat sorgt für Freude
Lange ruht sein Blick auf Bildern aus der Endzeit der DDR. Die Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ ist auf einem zu lesen. „Stasi: schlagen, treten, abhören, spionieren, inhaftieren“ auf einem anderen. Interessiert spricht er mit Weißbach über das Interesse der Nutzer, die Zusammenarbeit mit prominenten Fotografen und Einschränkungen durch Urheber- und Persönlichkeitsrechte. Dann entdeckt Gauck Fotos, auf denen er selbst zu sehen ist, unter anderem mit Ulrike Poppe und der Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. „Ach, wo war das denn?“, fragt er, um die Antwort gleich selbst zu geben: bei der Pressekonferenz zur ersten Einsichtnahme von Stasiakten, 1992 in Berlin.
Nach dem Rundgang gönnt sich der Bundespräsident ein gänzlich unprotokollarisches Aufjuchzen – Zeichen der Überraschung, der Freude und auch der Rührung. Mitarbeiter des Archivs schenken ihm ein Plakat. Das entstand im Wahlkampf zur Volkskammerwahl im März 1990. Es zeigt einen jungen energischen Politiker von Bündnis 90 – Jochen Gauck – und den für ihn wenig überraschenden Slogan „Freiheit. Wir haben sie gewollt, wir gestalten sie“.
„Das gibt’s ja nicht“, jubelt Gauck, als Ulrike Poppe das Plakat entrollt. „Bündnis 90 hatte das offizielle Plakat der Partei nicht gefallen“, erläutert er die Entstehungsgeschichte. „Dann hieß es: Los, Jochen, wir machen mal ein eigenes.“ Um den erstaunten Journalisten zu erklären „So heiße ich zu Hause. Das mit dem Joachim kam erst später.“ Er habe dann nach der Wahl feststellen müssen, „dass man mit Freiheit weniger erreichen kann als mit Wohlstand“, ergänzt er augenzwinkernd.
Unterstützung versprochen
Gauck machte den Mitarbeitern ebenfalls ein Geschenk, in Form von Unterstützung. Er versprach, mit Abgeordneten und Ministern über eine institutionelle finanzielle Förderung für das Archiv der DDR-Opposition zu sprechen. Bislang werden die Kosten lediglich über Projektmittel getragen, das schafft Jahr für Jahr Ungewissheit.
Ursprünglich, so Olaf Weißbach, habe der Senat in Aussicht gestellt, sich an einer dauerhaften Finanzierung mit 50 Prozent zu beteiligen, wenn der Bund die andere Hälfte übernimmt. Das habe der damalige Kulturstaatsminister Bernd Neumann aber abgelehnt. Dessen Nachfolgerin Monika Grütters hegt offenbar weit mehr Sympathie für das Archiv der Opposition. Nun legt der Ball beim Senat, der aber bislang zögert.
Zum Schluss des präsidialen Besuchs ging es dann noch einmal um das Datum des Tages. Wie er als 13-Jähriger den 17. Juni 1953 erlebt habe, wurde Gauck gefragt. „Ich wollte in Rostock zu den streikenden Werftarbeitern gehen, aber meine Mutter hat das verboten“, erzählte er. Die Stimmung in vielen Schulklassen sei eher gegen das SED-Regime gerichtet gewesen. Die Aufstände hätten bei vielen Menschen Euphorie ausgelöst, der Wunsch nach Veränderung sei sehr groß geworden. Damals hätten auch viele DDR-Bürger naiv auf Hilfe aus dem Westen und eine schnelle Wiedervereinigung gehofft, sagte Gauck.
Dann schlug er den Bogen zur friedlichen Revolution 1989. Es sei merkwürdig und traurig, dass sich die Bürgerrechtler damals nicht auf den Volksaufstand vom Juni 1953 bezogen hätten“, bekannte der Bundespräsident und frühere Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. Das sei dann nach dem Mauerfall geschehen. „Wir haben den 17. Juni erst wiederentdeckt, nachdem wir gewonnen hatten.“