Es ist eine Szene am Rande, die wohl am meisten über den Berliner Meisterkoch des Jahres 2012 erzählt. An diesem ganz normalen Dienstag hat sich sein Restaurant „Lorenz Adlon Esszimmer“ im Hotel Adlon gegen acht Uhr abends gerade gefüllt, der Moment, in dem es in der Küche hektisch werden kann: Ein Spüler muss mit seinem zweistöckigen Wagen an Hendrik Otto vorbei, und ein Spüler ist bekanntlich dafür da, die Hinterlassenschaften aus den Töpfen der Köche zu entfernen.
Der Chef lächelt kurz, nickt einmal und tritt dann schnell beiseite: „Genug Platz?“, fragt er. Der Spüler, ein älterer Schwarzer, lächelt zurück und ist schon an Otto vorbei. Der verschwindet schnell in Richtung Fischküche. Da muss er einen Teller mit Thunfisch begutachten.
Man behauptet wohl nicht zu viel, wenn man sagt, dass eine solche Begegnung sehr lange in der Gastronomie beinahe undenkbar war, in der Spitzengastronomie zumal. In einer Sterneküche zählen nur perfekte Ergebnisse – und auch wenn es übertrieben wäre, die logistische Leistung eines Abends mit 500 produzierten Gerichten mit einer Aktion wie der Landung des US-Marine-Korps 1944 in der Normandie zu vergleichen, so sind die Hierarchien in den entscheidenden Momenten doch sehr ausgeprägt; die Tatsache aber, dass für Diskussionen keine Zeit bleibt, hat mehr als ein berühmter Zampano am Herd so für sich ausgelegt, dass er seine Untergebenen ganz gern mal nach astreiner Feldwebelmanier anbrüllt; um sich ein bisschen Luft im allgemeinen Druck zu verschaffen und klarzustellen, wer hier das Sagen hat.
Bei Hendrik Otto geht es offenkundig ganz anders zu. Die Geste gegenüber dem Spüler war außerdem zu alltäglich, zu spontan, damit man glauben könnte, dass sie nur stattfindet, wenn die Presse im Haus ist. Und auch wenn sein Verhalten selbstredend noch nichts über Ottos Geschmackssinn aussagt, so lässt es erkennen, dass hier ein Mann arbeitet, für den das Wort Respekt eine sehr große Bedeutung hat. Ökonomisch war die Begegnung obendrein, so konnte Hendrik Otto schließlich am schnellsten den Teller mit dem Thunfisch prüfen.
Otto passt in keine Schublade so recht
Vier Küchenchefs sind inzwischen in der Hauptstadt mit zwei Sternen des wichtigsten Restaurantführers Michelin ausgezeichnet. Christian Lohse aus dem „Fischers Fritz“ ist so etwas wie der Klassiker, er war es, der mit seiner französischen Küche 2007 als erster seit langer Zeit wieder zwei Sterne holte. Tim Raue – sein Restaurant trägt seinen Namen – mit seinem Asien-Faible kann man getrost als den öffentlichkeitswirksamsten bezeichnen, Daniel Achilles aus dem „Reinstoff“ als den am experimentierfreudigsten.
Nur Hendrik Otto, verheiratet, ein Kind, er erhielt den zweiten Stern im Jahr 2011, entzieht sich einer solchen Kategorisierung. In entsprechenden Führern ist immer davon die Rede, dass er die klassische „Grande Cuisine“ wunderbar neu und leicht interpretiere; was man eben so schreibt, wenn jemand in keine Schublade passt.
Hendrik Otto selbst genehmigt sich ein vorsichtiges Lächeln, wenn man ihn darauf anspricht. Grob gesagt gibt es zwei Sorten von Spitzenköchen: Die einen versuchen ganz puristisch das Beste aus ihren Grundprodukten herauszuholen, sie arbeiten nur mit wenigen Zutaten und Gewürzen. Den anderen geht es darum, möglichst viele Aromen so neu zu kombinieren, dass es etwas Stimmiges entsteht. Hendrik Otto hat während seiner Wanderjahre beim großen Harald Wohlfahrt in der „Traube-Tonbach“ in Baiersbronn gearbeitet. Der hält die maximalen drei Michelin-Sterne so lange wie sonst kein anderer in Deutschland und steht für den ersten, den klassischen Ansatz. Das hat Otto geprägt.
Wohlfahrt und Wissler sind seine Leitbilder
Andererseits fällt bei ihm immer der Name Joachim Wissler, wenn die Frage im Raum steht, mit wem er gern einmal ein Menü kochen wolle. Auch dieser Mann hat drei Sterne und serviert im „Vendôme“ in Bergisch-Gladbach gern bis zu 26 Gänge, eine Aromenkombination nach der anderen, am liebsten würde er dabei aufs Atom genau vorgehen.
Doch die Zeit drängt nun, Hendrik Otto muss an den Pass, dorthin, wo die Kellner das fertige Essen abholen. Otto hält das wie die meisten Küchenchefs, er richtet mit an und kontrolliert jeden einzelnen Teller. Die Kellner halten ihm dann ein Silbertablett unter die Nase, er blickt circa drei Sekunden lang konzentriert und sagt an diesem Abend immer: „Danke“. Von seinem heutigen Gast in der Küche verlangt er, dass er möglichst viel probiert: „Das ist doch ganz klar“, sagt Otto, „wenn Sie nicht essen, was ich koche, dann können Sie nicht über das schreiben, was ich tue.“ Und so gibt es beim Zusehen immer wieder kleine Häppchen, zuerst etwas sehr Traditionelles: Einen Königsberger Klops, ein Toast Hawaii und ein Stückchen Sülze.
Genau hier fängt an, was Hendrik Otto besonders macht. Von Kasslerbraten mal abgesehen, existiert sehr wahrscheinlich nichts, was in Deutschland derzeit in kulinarischer Hinsicht weniger hip wäre als genau diese drei Gerichte. Im besten Falle klingen sie nach furnierholzgetäfelter Dorfgasthofstube und frischem Bier vom Fass, nach so richtig satt werden und nach Bauchansatz, aber ganz bestimmt nicht nach Hauptstadtluxus und Menüs, die mit Weinbegleitung 250 Euro pro Person kosten. Hendrik Otto fechtet das kein bisschen an, es scheint ihn sogar zu freuen. Für die Sülze nimmt er ganz selbstverständlich das Adjektiv „geil“ in den Mund, und er ballt unwillkürlich die Faust, wenn er über sie spricht.
Bekannte Namen völig neu arrangiert
Denn in Wahrheit hat das, was da auf dem Teller liegt, selbstredend gar nichts mit dem zu tun, was die Gerichte sonst darstellen. Der Königsberger Klops besteht keineswegs aus Schweinemett, sondern ist eine aufgeschäumten Creme auf Basis eines Kalbfleisch-Suds, die mit Rote-Bete-Schaum gefüllt ist. Darunter hat Ottos Team eine Petersilien- und Kaperncreme montiert. Die Sülze ist vom Tafelspitz, unter ihr befindet sich eine Meerrettichmousse und ein selbst gebackener Brotchip, eingehüllt ist das Ganze in winzig fein geschnittenen Sellerie, Meerrettich und Parmesan. Der angebliche Toast Hawaii ist ein besonderer Gag, kein Toast weit und breit, nur ein kleines Röllchen, bestehend aus Ananas- und Sauerkirschpüree, in das ein cremiges Schinkengelee eingeschlagen ist.
All das hat eine unglaubliche Menge an Verarbeitungsschritten hinter sich, dabei sind es nur Kleinigkeiten, mit denen Otto seine Gäste begrüßt. Im Mund entfalten sich unterschiedlichste Konsistenzen und Aromen, man erkennt die ihnen zugrunde liegenden Gerichte, aber die Kreationen ergeben doch etwas grundsätzlich Neues. Nichts ist allerdings darauf angelegt, durch möglichst deutliche Kontraste große Effekte zu erzielen, sondern alles ergibt ein harmonisches Ganzes.
Hendrik Otto beobachtet seinen Küchengast beim Probieren und kann nicht anders, sein Lächeln gerät nun zum spitzbübischen Grinsen. Er gibt zu Protokoll, dass ihn kulinarische Moden nicht interessieren, er aber ständig auf der Suche sei. So lässt sich seine Arbeit wohl zusammenfassen, denn dieses Prinzip wird bleiben, bei allem, was er kosten lässt: Gut bekannte Bezeichnungen wie eine Ofenkartoffel zum Steak werden durch Garmethoden und Aromakombinationen zu einem neuen Erlebnis.
Ohne Anspruch auf Neuerfindungen
Donnerstags ist großer Probiertag bei ihm, da kommt die Küche von seinem Stellvertreter bis zum Praktikanten zusammen und jeder muss eine Idee mitbringen. Am Ende des Tages, sagt Hendrik Otto, es ist seine liebste Redewendung, am Ende des Tages also diktiere schon er, was auf die Karte komme. Doch ohne seine Mitarbeiter sei er aufgeschmissen.
Noch etwas fügt er mitten im dicksten Geschäft hinzu, etwas, das man beileibe nicht aus dem Mund jedes seiner Berliner Sternekollegen hören würde: Dass er sich trotzdem nicht einbilde, alles, was er erstmalig auf die Karte setze, auch wirklich selbst erfunden zu haben. So lang sei die Tradition der großen Gastronomie, dass man ja doch nicht überblicken könne, wer wann was schon einmal gemacht habe. Allerdings liegt dieser Gedanke im Hotel Adlon sicherlich besonders nahe; die Speisekarte des Gourmetrestaurants enthält bis heute die eigene Sektion „Adlon-Klassiker“ mit Gerichten wie Hummercremesuppe.
Otto erweckt den Eindruck, als ob er sehr gut mit dieser Tradition lebt, die nur zu schnell zur Bürde werden kann. Genauso wie er es begrüßt, dass die Konkurrenz in Berlin in den vergangenen Jahren in seinem Arbeitsfeld sehr zugenommen hat. Sportlich müsse man das sehen, sagt Otto, jeder wolle natürlich der Beste sein; und wenn nun der große Franzose Pierre Gagnaire im „Waldorf Astoria“ einem Restaurant seinen Namen leihe, dann pushe das die Gastronomie doch nur noch mehr.
Aufgewachsen im Bitterfelder Chemiedreieck
Vielleicht hat dieser Umgang mit dem Druck mit Ottos Herkunft zu tun. Otto, Jahrgang 1974, kam in Wolfen bei Bitterfeld im DDR-Chemiedreieck zur Welt, nicht gerade der glamouröseste Fleck des Planeten und ganz weit weg von Luxusgastronomie. Sein Vater sagte ihm: Junge, wenn du was anderes als das sozialistische Ausland sehen möchtest, werd’ Koch und geh’ zur Handelsmarine. Dann gab es keinen Sozialismus mehr, und Otto begann eine Ausbildung im Schwarzwald in einem privat geführten Hotel. Eines Tages machte er mit einem Freund eine Spritztour auf seinem Motorrad und landete vor Harald Wohlfahrts „Traube Tonbach“. An den Blick auf die Speisekarte erinnert er sich bis heute ganz genau: das willst du auch mal versuchen, sagte er sich. Jahre später zog er es durch. Man könnte auch sagen: Hendrik Otto ist einer, der sich in einem völlig fremden Umfeld durchzusetzen lernte, wie sollte ihn da die Hauptstadtszene schocken?
Die Bestellungen gehen nun schneller und schneller bei Otto und seiner Mannschaft ein. Dass ein ganz normaler Dienstag so geschäftig ist, war übrigens noch vor wenigen Jahren in Berlin keineswegs die Regel. Im „Lorenz Adlon Esszimmer“ gibt es das volle Programm mit edlem Holz, weißen Tischdecken und schwerem Besteck, auch der Gastraum ist also nichts für Event-Esser, die es gern modisch mögen. Hendrik Otto steht in der Küche am Pass, richtet an, korrigiert, eine steile Falte über der Nasenwurzel, Spritzflaschen für Soßen in der Hand, oder eine Pinzette für Kräutergarnituren. Es dauert bis zu fünf Minuten, bis ein Teller fertig ist, bis das Kaninchen wie gewünscht neben dem Gemüse liegt oder der Brokkoli auf dem Thunfisch und die Soße entsprechend dazu arrangiert wurde.
Meersalz auf der Praline
Immer bleibt Otto höflich zu seinen Mitarbeitern, jede Bitte endet auf einem Danke, wenn er tadelt, dann meist als Frage: „Könnte ich die Champignons das nächste Mal vielleicht so haben, dass sie etwas mehr wie Champignons schmecken und etwas weniger nach Salz?“ Das größte Wunder aber besteht darin, wie alles ineinander greift: In atemberaubenden Tempo gibt der Chef Dinge wie „Wir brauchen dann zweimal Leber, zweimal Langos, zweimal Kaninchen und einmal das Rind für Tisch fünf“ von sich, was für seine Köchinnen und Köche ein fast unüberblickbares Durcheinander von Zutaten, Garzeiten, Verarbeitungsschritten und Aromen nach sich zieht. Doch die Mannschaft, sie sind zu neunt in der Küche, quittiert diese Anweisungen lediglich mit einem kurzen Kopfnicken und einem „Ja“. Und am Ende steht alles auf die Sekunde genau bereit.
„Training“, sagt Otto auf die Frage, wie so etwas gehe, als sei es das Normalste überhaupt. Ein Schauspieler müsse für eine Theaterinszenierung seine Rolle gelernt haben, wenn er die Sinne seines Publikums ansprechen wolle; und wenn jemand in sein Restaurant komme, dann müsse die Küchenbrigade eben so etwas beherrschen, um Genuss mit allen Sinnen gehe es doch am Ende des Tages. Er schiebt einen Teller mit Petit Fours herüber und besteht darauf, dass sein Gast alles aufisst. Auf einer Snickers-Praline liegt ein feines Meersalz, und plötzlich schmeckt sie ganz anders als gewohnt.
Ob er denn partout nie sauer oder laut in seinem hektischen Job werde, wollte der Gast in der Küche an diesem Dienstagabend vom Berliner Meisterkoch Hendrik Otto noch wissen. Bei bis zu 16 Stunden Arbeit fünf Mal in der Woche könne das doch kaum anders sein. „Ja, das passiert“, hatte Otto dazu gesagt. „Aber eigentlich darf das nicht sein, denn wenn ich schreie, sind die Fehler ja schon lange vorher passiert.“ Der Gast ging in dem Bewusstsein, an diesem Abend viel über Spitzenküche gelernt zu haben. Mehr aber noch über Menschlichkeit.