Sieben Jahre lang hat Familie Sander (Name von der Redaktion geändert) gegen ihren früheren Vermieter gekämpft – wegen Asbest in ihrer Charlottenburger Wohnung. Nachdem die Familie den Prozess in erster Instanz beim Amtsgericht verlor, hat ihr das Landgericht Berlin im Berufungsverfahren jetzt Recht gegeben: Sollte eines der drei Kinder irgendwann einmal erkranken, steht ihm Schadenersatz und Schmerzensgeld zu.
Zu diesem Ergebnis kamen die Richter in einer sogenannten Feststellungsklage, bei der noch keine Schadenshöhe festgelegt wurde, aber der Anspruch darauf festgestellt wurde. Demzufolge haftet der Vermieter, in diesem Fall die Gewobag, dafür, dass er gesundheitsgefährdende Materialien verwendet. Die Gewobag werde in Revision gehen, sagte Sprecherin Gabriele Mittag.
Für Rechtsanwalt Sven Leistikow, der die Familie ab 2009 vor Gericht vertreten hat, könnte das Ergebnis den Wohnungsbaugesellschaften künftig noch Probleme bereiten. „Sie sollten Rücklagen bilden. Sie wissen, wenn es jetzt zu Schäden kommt, müssen sie zahlen“, sagt er.
Asbest war nicht nur ein beliebter Baustoff in vielen Nachkriegsbauten. Wie berichtet, informieren Wohnungsbaugesellschaften wie die Gewobag gerade ihre Mieter über eine mögliche Asbestgefahr. Böden dürften nicht entfernt oder bearbeitet werden. Doch Asbest lauert auch auf etlichen Böden in Altbauten. Wie bei den Sanders haben Vermieter gerade in Berliner Altbaukiezen wie am Chamissoplatz in Kreuzberg, am Nollendorfplatz in Schöneberg und eben auch im Gebiet rund um den Klausenerplatz gegenüber dem Schloss Charlottenburg besonders in den 70er- und 80er-Jahren auf Holz-Dielenböden Asbestplatten verkleben lassen.
Gefahr bei gebrochenen Asbestplatten
„Diese Platten machen die Bewegung des Holzes mit. Es arbeitet. Und es ist deshalb auch klar, dass die Platte darüber irgendwann bricht. Asbest ist nicht nur ein Schlagwort, sondern eine reale Gefahr für Mieter“, warnt Rechtsanwalt Leistikow. Formal baurechtlich sei es zwar richtig, wenn die Behörden und auch die Vermieter sagten, gebundener Asbest stelle keine Gefahr dar.
Doch diese Argumentation stimme eben nur solange wie die Bodenplatten nicht gebrochen seien. Sobald sie kaputt seien, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, an frei gesetzten Asbestfasern zu erkranken. Das Gutachten hat zudem eine Gefährdung durch die gebrochenen und zum Teil weiter vorhandenen Asbestplatten bejaht.
Familie Sander war 1998 in den Altbau im Klausenerplatz-Kiez eingezogen. Die zwei älteren Kinder waren schon geboren, der jüngste Sohn kam ein Jahr nach dem Einzug auf die Welt. Alle Kinder spielten jahrelang auch mit dem kleinen Hund unbedacht auf dem Boden, auch dort wo die kaputten Asbestplatten lagen. Der Älteste war beim Einzug vier Jahre alt, die Tochter gerade mal ein Jahr.
Wohnungsbaugesellschaft hätte Arbeit kontrollieren müssen
Wie das Übergabeprotokoll der Wohnungsbaugesellschaft zeigt, waren schon beim Einzug zwei Platten im Flur gebrochen. Im August 2005 brachen die Platten dann vermehrt im Flur und lösten sich auch. Der Vermieter beauftragte nach einer Wartezeit schließlich eine Firma, die Platten im Flur der Vier-Zimmer-Wohnung zu beseitigen. Obwohl es sich um ein Asbest zertifiziertes Unternehmen gehandelt habe, hätte der Handwerker, so der Anwalt, die Platten mit Hammer, Spachtel und Meißel entfernt.
„Das war entgegen allen Vorschriften steinzeitmäßig“, sagt Anwalt Leistikow. Nach Auskunft des Familienvaters hatte der Handwerker die Platten damals in vier Zehn-Liter-Eimern herausgetragen und den Rest einfach liegen gelassen – etwa ein Drittel des Bodens war noch mit den Platten bedeckt. Dann sei der Handwerker einfach verschwunden. Das war im September 2005. Der Streit schwelte. Noch 2006 hätten die Mieter die Wohnungsbaugesellschaft aufgefordert, den weiteren Schaden im Flur zu beseitigen. Gebrochene Platten fanden sich 2011 bei einem Ortstermin immer noch im Flur.
Nach Ansicht von Rechtsanwalt Leistikow können sich Wohnungsbaugesellschaften nicht darauf zurückziehen, sie hätten sachkundige Firmen mit der Asbest-Entfernung beauftragt: „Die Wohnungsbaugesellschaft hätte wissen können, dass bei dem günstigen Preis nicht ordnungsgemäß gearbeitet wurde.“ Bei sämtlichen Asbestsanierungen müssten Vorschriften wie Vollkörperschutzanzüge und eine Entsorgung mit Schleusen und der Abgabe als Sondermüll beachtet werden.
„Dieses Problem kann die Gewobag auch heute nicht vollständig abgeben, sondern sie muss Stichproben machen, ob ordnungsgemäß gearbeitet wird“, konstatiert der Anwalt. Diese Auffassung bestätigt nun das Gericht und verweist den Vermieter auf seine unterlassene Aufklärung.
Durch Zufall von Asbest erfahren
Sarah Sander hatte nur durch Zufall von der Asbestgefahr erfahren. Eine Nachbarin aus ihrem Haus, die ihren Vermieter wegen des Asbests verklagt hatte und bei der die Platten korrekt entfernt worden waren, hatte die dreifache Mutter gewarnt, als sie bemerkte, dass auch bei ihr Platten entfernt wurden. Sarah Sander war alarmiert. Wie ihre Nachbarin schickte auch sie eine Platte zum Institut Fresenius. Das bestätigte den Asbest-Verdacht. Um die Kinder zu schützen, habe sie bei der Gewobag das Problem angesprochen. Dort sei aber die Ungefährlichkeit immer wieder betont worden.
Das Amtsgericht Charlottenburg habe sich seine Entscheidung nicht leicht gemacht, sagt der Anwalt. Im Februar 2011 ließ das Gericht ein Gutachten erstellen, um folgende Fragen zu klären: Können von Bruchkanten dieser Asbestplatten jederzeit Asbestpartikel austreten? Können sie bei den Kindern über Hand und Mund in die Lunge gelangen und zu Gesundheitsschäden führen? Kann ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Aufnehmen und einer künftigen Erkrankung hergestellt werden?
Das Gutachten bejahte die Fragen. Doch das Amtsgericht lehnte den Anspruch ab wegen der nur geringen Erhöhung des Gesundheitsrisikos einer tödlichen Asbesterkrankung. Dies sah das Landgericht anders. Dort ist man der Auffassung, dass auch bei einem geringen Risiko die Möglichkeit einer tödlichen Asbesterkrankung bestehe. Bereits eine Asbestfaser in der Lunge kann die Krankheit auslösen.
Nach dem Urteil ist Sarah Sander erleichtert, auch wenn sie viel Geld in das jahrelange Verfahren investieren musste. „Mein Gerechtigkeitssinn ist zumindest ein bisschen wiederhergestellt. Es ist doch fahrlässig, mit der Gesundheit anderer Menschen, und dann noch mit der von Kindern, so umzugehen. Jetzt haben wir wenigstens so etwas wie einen Präzedenzfall geschaffen“, sagt sie.