Der aktuelle Streit über die Verwicklung der Berliner Sicherheitsbehörden in die Ermittlungspannen rund um den NSU-Terror entzündete sich am V-Mann Thomas S., der zehn Jahre lang in Diensten des Berliner Landeskriminalamtes stand. Berlins Innensenator Frank Henkel (CDU) war in den vergangenen Tagen stark in die Kritik geraten, weil er dem Untersuchungsausschuss des Bundestages und dem Berliner Parlament die Existenz des V-Mannes verschwiegen hat. Seit März wusste er davon, dass die Berliner Behörden in den NSU-Komplex verstrickt sind. Morgenpost Online beantwortet die wichtigsten Fragen.
Wer ist der V-Mann Thomas S.?
Die Ermittler hatten Thomas S. („VP 562“) im Jahr 2000 angeworben mit dem Ziel, Erkenntnisse über die rechtsextreme Musikszene zu erhalten. Damals hatte die Bundesanwaltschaft in einem juristischen Pilotprojekt gegen die Berliner Nazi-Band „Landser“ wegen der Bildung und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ermittelt.
Im Jahr 2003 wurden die Bandmitglieder zu Haftstrafen verurteilt. Vor dem Abtauchen des Thüringer Terror-Trios war S. ein Helfer der mutmaßlichen Mörder. Zusätzliche Brisanz erhält die Zusammenarbeit des Berliner LKA mit dem V-Mann dadurch, dass er im Jahr 2005 wegen Volksverhetzung verurteilt wurde. Ob die Berliner Behörden davon wussten, ist bislang nicht geklärt. Insgesamt ist S. vier Mal vorbestraft.
Nach Angaben der Berliner Verfassungsschutzchefin, Claudia Schmid, wäre S. als V-Mann des Verfassungsschutzes nicht in Frage gekommen, da die Behörde grundsätzlich nicht mit V-Leuten zusammenarbeite, die Straftaten begingen.
Was erzählte S.?
Insgesamt 38 Treffen gab es zwischen dem LKA und dem V-Mann bis zum Jahr 2009, Anfang 2011 schalteten ihn die Ermittler ab. S. berichtete seinem Führungsbeamten zum Beispiel am 9. August 2001 von möglichen Waffengeschäften im Umfeld des Terrortrios, die allerdings nicht zustande kamen.
Am 13. Februar 2002 berichtete er von einem Mittelsmann, der zu „drei Personen in Thüringen“ Kontakt hatte, die gesucht worden sein sollen. Die Personen seien ihm namentlich nicht bekannt. Im August 2003 erhielt er den Auftrag, sich um einen Leipziger Rechtsextremen zu kümmern. Im Jahr 2005 sollte er Hintergründe zu den Machern der Internetseite der „Kameradschaft Tor“ herausfinden.
Unklar ist bislang, was das Berliner LKA mit den Informationen machte. Klar sei, dass sie an verschiedene Behörden weitergeleitet wurden, sagte die amtierende Polizeichefin Margarete Koppers. Es gebe aber keinen Beleg dafür, dass die Unterlagen an die Thüringer Behörden geleitet wurden.
Warum muss Thomas S. geschützt werden?
Die Berliner Polizei lehnte es ab, die Akten dem Generalbundesanwalt zur Verfügung zu stellen. Sie hatte dem Informanten Vertrauensschutz zugesagt. Wenn die Akten in die Anklageschrift gegen die NSU-Terroristen einflössen, so das Argument der Polizei, wären die Informationen auch der Verteidigung der Beschuldigten zugänglich. Dann wäre das Leben des V-Mannes in Gefahr.
Das führte zu der absurden Situation, dass die Ermittler im NSU-Komplex nicht alle Unterlagen erhielten, weil die Polizei ihren – rechtsextremen – V-Mann schützen wollte. Der Generalbundesanwalt erhielt daher bislang lediglich eine dreiseitige Zusammenfassung der Berliner Erkenntnisse. Das ist auch das heutiger Sicht der Polizei auch richtig. „Den Quellenschutz haben wir noch nie gebrochen“, sagte Koppers dazu in der Sondersitzung des Innenausschusses.
Welche Verantwortung trägt Henkel?
Innensenator Frank Henkel trägt die politische Verantwortung für die Ereignisse dieses Jahres. „Ich bin mir meiner Verantwortung generell sehr bewusst“, sagt der in die Kritik geratene Innensenator am Mittwoch. „Ich schiebe keine Verantwortung ab.“
In den vergangenen Tagen hat er umfangreich zu den Vorwürfen Stellung bezogen. Dabei ging es vor allem um das Handeln der beteiligten Behörden: Wer wusste wann was, wer hätte wann was wissen müssen, wer hatte welche Unterlagen und wer hat sie an wen weitergeleitet. Dabei wurden die beiden Ebenen – die Ermittlungen des Bundesanwaltes gegen die NSU und die Aufklärung des Bundestages über Verwaltungsfehler oft vermischt.
Henkel pocht darauf, dass es eine Absprache mit dem Bundesanwalt gegeben habe, nichts öffentlich zu machen, so lange beide Seiten zustimmen. Darunter fiel nach Auffassung Henkels auch die Unterrichtung des Bundestages über die Existenz des Berliner V-Mannes. Doch diese Entscheidung kann der Bundesanwalt rein rechtlich gar nicht treffen. Ungewohnt scharf wiesen die Bundesermittler in den vergangenen Tagen dann auch zurück, dass es eine derartige Absprache mit den Berliner Behörden gegeben habe.
Fakt ist: Im Januar sicherte die Innenverwaltung dem Berliner Parlament zu, es zu informieren, sollten sich Erkenntnis über eine Berliner Verstrickung in den NSU-Komplex ergeben. Am 1. März stellte der Bundestag eine Anfrage an Berlin, in der auch nach Erkenntnissen über Thomas S. gefragt wurde. Am 9. März erfuhr Henkel, dass Thomas S. ein V-Mann der Berliner Polizei war und somit eine Berliner Verstrickung in die NSU-Ermittlungen vorlag. Dennoch unterrichtete er weder den Bundestag, noch das Berliner Parlament darüber. Diese Entscheidung konnte weder die Polizei noch der Bundesanwalt für ihn treffen.
Auch enge Vertraute Henkels wunderten sich in den vergangenen Tagen über das fehlende politische Gespür Henkels in dieser Angelegenheit. Spätestens im März, als er von dem V-Mann erfuhr, hätte er wissen müssen, dass die Berliner Verstrickung öffentlich wird. Es bleibt unklar, warum er nicht bereits damals den Bundestag und das Berliner Parlament informiert hat – mit dem Preis der aktuellen Anfeindungen.
Was sagt die Opposition?
Genau das kritisieren Politiker im Bundestag und der Berliner Opposition. „Falls sich die Darstellung der Bundesanwaltschaft bestätigt, hat Herr Henkel das Parlament falsch informiert“, sagte die SPD-Obfrau im Untersuchungsausschuss, Eva Högl. So sieht das auch der Berliner Linken-Fraktionschef Udo Wolf. Henkel habe die Abgeordneten „im Unklaren gelassen und belogen. Aus freien Stücken und höchstpersönlich“, sagte er. Der neu entdeckte Aufklärungswille werde immer unglaubwürdiger. Zu keinem Zeitpunkt sei Henkel von der politischen Verantwortung entbunden gewesen, den Untersuchungsausschuss und das Berliner Parlament von der Existenz der Berliner Akten in Kenntnis zu setzen.
Ähnlich sehen es auch die Grünen. „Das unwürdige Gezänk zwischen dem Berliner Innensenator und dem Generalbundesanwalt muss ein Ende haben“, sagte Fraktionschefin Ramona Pop. „Es ist wohl ein einmaliger Vorgang, dass sich deutsche Sicherheitsbehörden gegenseitig mehr oder minder unverhohlen der Lüge bezichtigen.“ Spätestens im Untersuchungsausschuss des Bundestages, wo Frank Henkel am 28. September vorgeladen sei, werde sich zeigen, wer die Wahrheit gesagt hat. „SPD und CDU können sich nicht in der Koalitionswagenburg verschanzen und der Aufklärung im Weg stehen“, sagte Pop Morgenpost Online.
Wie geht es weiter im Senat?
Frank Henkel steht wegen des langen Verschweigens des V-Mannes stark in der Kritik. Am kommenden Freitag soll er im Untersuchungsausschuss des Bundestages dazu aussagen. Für den Senat ist dieser neuerliche Skandal fatal, da die beiden führenden Männer, der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit und Henkel, schwer an Ansehen eingebüßt haben. Während Wowereit sich für das Desaster rund um die Eröffnung des neuen Großflughafens BER verantworten muss, geriet jetzt Henkel in die Kritik.
Es ist schwer zu sagen, wie lange Henkel sich für das Verhalten der Sicherheitsbehörden verantworten muss. Sollten weitere Pannen bekannt werden, würde es zu einer Senatskrise führen – mit ungewissem Ausgang. Henkel selbst weist alle Rücktrittsgedanken von sich. Er wolle an der Aufklärung aktiv mitarbeiten, sagte er.
Die Affäre kommt zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt für die rot-schwarze Koalition. Die Regierungsfraktionen hatten nach dem holprigen Start ihrer Regierung – unter anderem mussten bereits zwei Senatoren ihr Amt verlassen – diesen Herbst zum „Herbst der Entscheidungen“ ausgerufen. Doch ob die Regierenden angesichts der aktuellen Probleme dazu kommen, ist ungewiss.