An Bahnstrecken in der Hauptstadtregion findet die Polizei immer neue Brandsätze. Ermittler gehen von einer kleinen, extremistischen Tätergruppe aus. Nur der Regen verhinderte mehr Explosionen.
Die Täter benutzten mit Vorliebe Plastikflaschen. Gefüllt mit Benzin, versehen mit elektronischen Zündern, deponiert in Kabelschächten. Ihr Ziel: Mit geringem Aufwand möglichst großen Schaden anzurichten. Die Detonationen sollten Kabelstränge und Leitungen zerstören, mit denen die Bahn Weichen und Signale steuert. Hätten die Brandsätze gezündet, das Verkehrschaos hätte ein unvorstellbares Ausmaß angenommen, so ein Ermittler. Offenbar verhinderte nur der Regen Schlimmeres.
Doch auch die bloßen Versuche reichten aus, den Fern-, Regional- und S-Bahn-Verkehr in den vergangenen Tagen in weiten Strecken lahmzulegen. Die Brandsätze wurden offenbar alle bereits am vergangenen Montag gelegt und werden nun nach und nach entdeckt. Davon gehen jedenfalls die Senatsinnenverwaltung und Ermittler aus. „Wir gehen von einer kleinen, linksextremistisch-autonomen Tätergruppe aus, da in der linksextremistischen Szene eher kritisch über die Aktionen debattiert wird“, sagte die Sprecherin von Innensenator Ehrhart Körting (SPD), Nicola Rothermel-Paris. Nach Ansicht der Innenverwaltung finden die Anschläge keinen Rückhalt in der Szene. Diese Kleingruppe sei aber sehr gefährlich, schließlich könne nicht ausgeschlossen werden, dass dadurch Menschen verletzt werden.
Die gefundenen Brandsätze auf einer Karte visualisiert
Auch Ermittler gehen davon aus, dass alle Brandanschläge von denselben Tätern begangen wurden. „Sie sind Teil einer gemeinsam koordinierten Aktion“, so ein Beamter. Nach den Erkenntnissen der Ermittler benötigten die Zünder Sauerstoff, um die Brandsätze zur Explosion zu bringen. Dafür hätten die Täter die Kabelschächte offen gelassen, heißt es. Der Regen sorgte dafür, dass sie unbrauchbar wurden.
Daher ist es wahrscheinlich, dass der am Mittwochmorgen in Brandenburg gefundene Brandsatz bereits am Montag explodierte. Bahnmitarbeiter fanden die Überreste zwischen dem Bahnhof Staaken und Dallgow-Döberitz an der Bahnstrecke Berlin–Hannover. Bei einer Durchsuchung des Umfelds fanden sie zwei weitere, nicht detonierte Brandsätze. Nach Angaben eines Bahnsprechers waren die Männer eigentlich auf der Suche nach den Ursachen einer technischen Störung im Zusammenhang mit dem Anschlag vom Montag auf der Bahnstrecke Berlin–Hamburg nahe Finkenkrug (Havelland). Messungen im Rahmen der immer noch laufenden Reparatur nach dem Kabelbrand hatten Fehler in der Elektrik angezeigt, die durch die erste Tat allein nicht erklärbar waren.
Zum Glück für die Fahrgäste konnten die Eisenbahner aber schon kurz nach dem neuen Fund einer Brandstelle Entwarnung geben. Der Schaden erwies sich als vergleichsweise gering. Eine tagelange Sperrung der viel befahrenen ICE-Strecke nach Hannover, Frankfurt (Main) und die Großstädte an Rhein und Ruhr ist nicht nötig.
Politiker aller Parteien verurteilten die Anschläge scharf. „Es muss eine klare Ächtung durch die Gesellschaft geben. Es gibt keinen Rechtfertigungsgrund, keine Ideologie, die Brandsätze rechtfertigen könnte“, sagte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit. CDU-Chef Frank Henkel nannte die Serie eine „erschreckende Eskalation“. „Das ist eine perfide Anschlagserie, die an Terrorismus grenzt und auf die Störung unserer Gesellschaft abzielt“, so Henkel. Die innenpolitische Sprecherin der Linke, Marion Seelig, sprach von einer „kriminellen Tat, die aufs Schärfste zu verurteilen ist“. Der Grünen-Innenexperte Benedikt Lux rief dazu auf, „kein Verständnis für diese Straftaten“ zu zeigen.
50.000 Minuten Verspätung
Am Mittwoch sorgte der Anschlag für weitere erhebliche Einschränkungen im Bahnverkehr. Während des Polizeieinsatzes am Tatort mussten die ICE-Züge Richtung Westen von 11.30 bis 14Uhr auf benachbarte Regionalverkehrsgleise umgeleitet werden und waren daher erheblich länger unterwegs. Weil auch die Züge nach Hamburg seit Montag über dieselbe Strecke umgeleitet werden, mussten die Regionalzüge auf eine andere Trasse ausweichen. Sie fuhren mit großer Verspätung über Priort. Betroffen davon war unter anderem die wichtige Regionalexpresslinie RE2 (Rathenow–Cottbus).
Ein weiterer Fund von Brandsätzen legte am Mittwoch von 11.07 bis 13.20 Uhr den S-Bahn-Verkehr auf dem Berliner Ring lahm. Zwischen den Stationen Südkreuz und Schöneberg, nahe der Torgauer Straße, waren die nicht gezündeten Brandsätze entdeckt worden. Die Ringbahn blieb unterbrochen, die Linien S46 und S47 fuhren nur bis Schöneweide. Gegen 15 Uhr wurde dann bei einem Kontrollgang ein weiterer Brandsatz gefunden.
Die Folgen des ersten Anschlags vom Montag müssen die Fahrgäste der Bahn auch an diesem Donnerstag noch ausbaden. Bei den Reparaturen stellte die Bahn am Mittwoch Schäden an weiteren Schaltgruppen fest, wie ein Sprecher bestätigte. Mindestens bis Donnerstagabend werden die ICE-Züge in Richtung Hamburg daher noch über Stendal und Wittenberge umgeleitet. Weiter eingeschränkt ist auch der Verkehr auf den Regionallinien RE4 (Wismar–Jüterbog), RE6 (Spandau–Wittenberge), RB14 (Nauen–Senftenberg) und RB10 (Charlottenburg–Nauen). Bundesweit haben sich seit Montag rund 2000 Züge wegen der Streckensperrungen verspätet, so ein Bahnsprecher. Die Verspätungen summierten sich auf etwa 50.000 Minuten.
„Eine Anschlagserie dieser Art ist mir aus einer anderen europäischen Großstadt nicht bekannt“, sagte der Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg, Hans-Werner Franz, am Mittwoch. Attacken auf Bahnanlagen tauchten bisher meist bei militanten Atomkraftgegnern auf, die versuchten, die regelmäßigen Castor-Transporte zwischen Deutschland und Frankreich zu behindern.
In der Szene besonders verbreitet: das Werfen von Hakenkrallen, mit denen elektrische Oberleitungen beschädigt werden, und das sogenannte „Schottern“. Dabei werden lose Schottersteine unter den Schwellen und Schienen herausgeholt, wegen der fehlenden Stabilität können die Züge dann bis zur Reparatur der Schadstellen nicht mehr fahren. Die materiellen Schäden für die Bahn waren in fast allen Fällen immens.
M. Behrendt, C. Brüning, D. Ehrentraut, M. Falkner, T. Fülling