Ich habe Klaus Wowereits Buch mit Neugier zur Hand genommen. Die Passagen, in denen er sich polemisch zu Thilo Sarrazin äußert, übergehe ich bei meiner Rezension. Als Finanzsenator habe ich sieben Jahre lang mit dem Regierenden Bürgermeister Wowereit sachlich und konstruktiv zusammengearbeitet. Mein Buch hat er jedenfalls nicht gelesen oder seine Analysen verdrängt, weil sie nicht opportun sind.
Wowereits Buch enthält lange Passagen, denen man zustimmen kann. Das gilt insbesondere für die Bedeutung von Bildung und Arbeit bei der Herstellung von Chancengleichheit und Teilhabe. Zu Recht betont er auch die Notwendigkeit des persönlichen Aufstiegswillens und führt dazu sich selbst als Beispiel an. Neues enthalten diese Passagen allerdings nicht. Schön und für den Berliner herzerwärmend sind viele Abschnitte über Berlin und die Berliner. Man merkt: Klaus Wowereit liebt seine Stadt, und das ziert einen Regierenden Bürgermeister. Zu Recht betont Wowereit auch die gewaltige Integrationsleistung, die Berlin in seiner Geschichte erbracht hat.
Richtig beschreibt er die Bedenken, die er gegen eine Migrantenquote in Parteigremien hat: Migranten und Nicht-Migranten können kaum sauber voneinander abgegrenzt werden. Die Leistung jener Migranten, die es aufgrund eigener Anstrengungen und Verdienste schaffen, wird durch eine Quote entwertet. Während Integration auf Aufhebung von Trennung nach Herkunftsgruppen gerichtet ist, wird durch eine Quote diese Trennung akzentuiert.
Soweit das Positive. Schwerer wirken die Defizite. Das beginnt mit Wowereits Integrationsbegriff. Wowereit vermischt nämlich die allgemeine Frage des Umgangs mit Minderheiten mit dem Integrationsproblem. Anders als uns Wowereit gleich auf Seite 7 seines Buches klarmachen will, ist Integration mehr als der Abbau von Diskriminierung, als Toleranz und Vielfalt.
Für Wowereit haben alle Minderheiten ein potenzielles Integrationsproblem. Ob es sich um Behinderte, arme Rentner, Schwule, Lesben, Russlanddeutsche, Polen, Vietnamesen, Türken, Araber, Kosovoalbaner, Roma aus Rumänien und Bulgarien handelt – für Wowereits Integrationsbegriff sind sie alle gleich. So weit ausgedehnt und bis zur Unkenntlichkeit inhaltsleer, kann man seinen Integrationsbegriff in einer Kurzformel zusammenfassen: „Seid umschlungen, Millionen.“
Das ist Kitsch
Die fehlende Rampe für den Rollstuhlfahrer am S-Bahn-Eingang wird damit gleichgesetzt mit der Straßenkriminalität von Roma aus Bulgarien. Beides ist eben ein Integrationsproblem. Das ist – mit Verlaub – Kitsch. Wer alles in einen Topf wirft, vernebelt die Probleme und redet der Verharmlosung das Wort.
Peinlich wird es, wenn Wowereit in diesem Zusammenhang auf seine Familie zu sprechen kommt. Er schreibt „Die Wowereits haben einen Migrationshintergrund“ und führt als Beleg an, dass seine Mutter als Landarbeiterkind in Ostpreußen aufwuchs, bevor sie als junge Frau nach Berlin ging. Wowereit möge im Geschichtsbuch nachschlagen: Ostpreußen war damals eine Provinz des Landes Preußen. Wenn seine Mutter 1938 eine Fahrkarte löste und in die Landeshauptstadt Berlin fuhr, so war sie damit genauso wenig Migrantin, wie heute ein Kleinbauer aus Oberfranken dadurch zum Migranten wird, dass er sein Glück in München versucht. Noch peinlicher wird es, wenn Wowereit die litauische Herkunft seines Namens mit der Vermutung verbindet, seine Vorfahren seien aus Litauen eingewandert: Vor der deutschen Besiedlung wohnten in Ostpreußen Litauer, Masuren und andere slawische Stämme, die sich teilweise mit den einwandernden Deutschen vermischten.
Schüttere historische Kenntnisse
Mit wie viel mehr Recht als Wowereit könnte ich mich als Migrantenkind bezeichnen: Meine Großmutter väterlicherseits war Engländerin, meine väterlichen Vorfahren kamen im 16.Jahrhundert aus Burgund. Meine westpreußische Mutter war bis 1939 polnische Staatsangehörige. Ich käme aber nicht auf die Idee, mir einen Migrationshintergrund zuzuschreiben: Ich wuchs in Recklinghausen auf, und bin ich Westfale! Was denn sonst?
Wowereits historische Kenntnisse sind bestenfalls schütter, und das tut dem Buch nicht gut:
Blühender Unsinn ist der Satz „Ohne Migration wären moderne Gesellschaften gar nicht vorstellbar“ (S.67): Die europäischen Länder hatten im 19.Jahrhundert, als sie zu Industriemächten heranreiften, keine wesentliche Einwanderung, Japans Aufstieg zur Industriemacht war nie von Einwanderung begleitet, dasselbe gilt für das heutige China. Regionale Bewegungen gab es natürlich immer.
Bei Wowereit geht auch völlig unter, dass es nicht gleichgültig ist, wer kommt: Im Deutschland des 19. und frühen 20.Jahrhunderts wanderte eine sehr überschaubare Zahl osteuropäischer Juden zu. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Abiturientenquote der Berliner Juden achtmal so hoch wie der Berliner Durchschnitt – übrigens ganz ohne besondere Förder- und Integrationsprogramme.
Schief und irreführend auch der Satz: „Hochkulturen entstanden immer dort, wo nicht Abschottung, sondern Miteinander gepflegt wurde … Dahinter steht eine bis heute gültige Erkenntnis, dass Kooperation immer stärker ist als Konfrontation.“ Das antike Ägypten, das Römische Reich oder China konnten sich nur deshalb zu langlebigen Hochkulturen entwickeln, weil sie durch gesicherte Grenzen Zuwanderung wirksam kontrollierten: In Ägypten waren das die Wüsten, im Römischen Reich der Limes und in China die Chinesische Mauer. Mit dem Weströmischen Reich hatte es ein Ende, als die Germanen und dann die Hunnen den Limes durchbrachen.
Den Gipfelpunkt seiner historischen Quacksalberei setzt Wowereit mit dem einzigen Satz seines Buches, der sich mit dem Islam auseinandersetzt: „Ja, es gibt extremistische Tendenzen bei Religionen, im Islam ebenso wie bei Protestanten und Katholiken.“ (S.158) Wie viele Attentate von Katholiken gab es denn unter der Amtszeit von Papst Benedikt? Und welche extremistischen Tendenzen hat Klaus Wowereit in der evangelischen Kirche Deutschlands unter dem braven Präses Schneider entdeckt? So schreibt einer, der sich drückt, indem er die Augen fest verschließt.
Der Einwanderungsdiskussion, wie sie Klaus Wowereit führt, fehlt schlicht das geistige Niveau.
Damit bin ich beim Kerndefizit seiner Betrachtungsweise: Er blendet aus, dass es gruppenbezogene Unterschiede gibt, die der Erklärung bedürfen: Italiener, Spanier, Griechen, Kroaten, ostdeutsche Vietnamesen haben heute, soweit sie noch in Deutschland leben, keine nennenswerten Integrationsprobleme. Das gilt ebenso für Russen, Ukrainer und Polen. Die Probleme konzentrieren sich ausschließlich auf Migranten aus der Türkei, dem arabischen Raum sowie auf zugewanderte Sinti und Roma. Die durchschnittlichen Pisa-Werte der Kinder türkischer und arabischer Migranten sind überall in Europa schlecht, das ist auch Wowereit nicht entgangen (S.98). Das liegt aber nicht an „Unterschichtung“ wie er meint, sondern an den Bildungstraditionen der Herkunftsländer. Die Pisa-Werte von Türken und Arabern an europäischen Schulen sind nämlich nicht schlechter als die ihrer Altersgenossen in den Herkunftsländern.
Die bei uns mögliche „Zuwanderung in den Sozialstaat“ bedeutet auch, dass wir für die (in Hinblick auf das Qualifikationsniveau) falsche Art von Einwanderern besonders attraktiv sind. Dieses Problem wird von Wowereit völlig ausgeklammert.
Das traurige Ergebnis: Die regionale Struktur unserer Zuwanderung senkt die durchschnittliche Bildungsleistung in Deutschland. Die USA, Kanada und Australien haben dieses Problem nicht. Dort kommt die Zuwanderung vor allem aus Ostasien. Die Kinder dieser Einwanderer erbringen durchweg bessere Schulleistungen als die einheimische weiße Bevölkerung. Damit steigert Zuwanderung dort die durchschnittliche Bildungsleistung.
Ursachen in der Herkunftskultur
Die niedrige Bildungsleistung bestimmter Einwanderungsgruppen in Europa ist eben nicht allein ein Sprachproblem, die Ursachen sind offenbar tief in der Herkunftskultur verankert. Auch dies ist ein Aspekt von „Multikulti“.
Bildung muss hier möglichst viel ausgleichen, aber kann sie wirklich alles ausgleichen? Gerade die nähere Analyse der Berliner Bildungsleistung zeigt, dass dies trotz der höchsten Bildungsausgaben in Deutschland bisher nicht gelungen ist. Und die Aufgabe wird jedes Jahr schwerer: Der Anteil von Kindern aus der Unterschicht an den Berliner Einschülern steigt von Jahr zu Jahr und liegt bei 40 Prozent. Kein Wort bei Wowereit zu diesem Problem.
Klaus Wowereit hat eine Schönwetter-Mutmach-Fibel geschrieben. Zu hoffen bleibt nur, dass der geistige Anspruch des Regierenden Bürgermeisters weiter reicht, als sein Buch erkennen lässt.
Vielleicht verharrt er ja nur aus wahltaktischen Gründen an der Oberfläche der Probleme der Integration. Dann hätte er allerdings die falsche Taktik eingeschlagen: Nur noch 17 Prozent der Wahlberechtigten in Berlin haben SPD gewählt, Wowereit konnte nicht einmal seinen Wahlkreis gewinnen. Dass man mit klarer Problemansprache weiter kommt, zeigen Heinz Buschkowsky und das spektakuläre Wahlergebnis der SPD im Bezirk Neukölln, das um 15 Prozentpunkte über dem Landesergebnis liegt. Sollte man es nicht doch mal mit der ungeschminkten Wahrheit versuchen? Viele Bürger scheinen das zu honorieren.