Ihre Vorwürfe wiegen schwer. Es sind Mitarbeiter, die für ambulante Berliner Pflegedienste tätig sind oder es in der Vergangenheit waren. Sie sprechen von bestechlichen Gutachtern, von Morddrohungen, von eingeschüchterten Patienten, von systematischem Geldbetrug an Kassen und Sozialhilfeträgern. Acht von ihnen sind an diesem Donnerstag ins Rathaus Mitte gekommen, um Erlebnisse zu schildern, die sie belasten. Eingeladen hatten die Sozialstadträte – und derzeitigen Wahlkämpfer – Michael Büge (CDU) und Stephan von Dassel (Grüne), sie sprechen von einem berlinweiten Problem, gar von Millionenbetrug. Zwei Anzeigen tätigte das Neuköllner Rechtsamt in den vergangenen Tagen, weitere Strafanzeigen hatten Mitte und Schöneberg die letzten Monate veranlasst.
Eine, ihre Erlebnisse schildern will, ist Jana Labuhn, eine zierliche Frau mit dunklem Pagenschnitt und schwarzem Blazer, eine ehemaligen Pflegedienstleiterin. Mehrere Monate arbeitete sie für das Unternehmen Pflegeland, einem Anbieter aus Charlottenburg-Wilmersdorf. Labuhn (45) berichtet: „Ich wurde als Pflegedienstleiterin eingestellt, aber nur auf dem Papier. Statt meiner eigentlichen Arbeit wurde ich auf Putz- und Einkaufstour geschickt. Die Pfleger sprachen sich mit den Geschäftsführern ab, fast alles wurde auf Russisch besprochen. Patienten wurden nicht richtig versorgt, einige haben sich beschwert, sie wurden unter Druck gesetzt. Da wurden Unterschriften gefälscht, um höhere Leistungen mit den Kassen abzurechnen. Wenn der Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) zur Kontrolle kam, wusste die Geschäftsführung Bescheid, die waren per Du. Ich habe Anzeige bei der Polizei gestellt und mich beim MDK beschwert, daraufhin wurde ich gekündigt.“
Pflegeland weist alle Anschuldigungen zurück. „Das ist eine Racheaktion von Frau Labuhn“, sagte Geschäftsführerin Jana Alifanova. Man habe ihr gekündigt, weil ihre Leistung nicht zufriedenstellend gewesen sei.
Labuhn zog ihre Klage vor dem Arbeitsgericht zurück. Der Richter sagte ihr, dass der Arbeitgeber mit dem Verweis auf Verletzung der Schweigepflicht das Recht auf Kündigung habe. Wie ihr geht es vielen, die Missstände im Arbeitsalltag anprangern. Labuhn hatte Probleme, einen neuen Job zu finden. Inzwischen arbeitet sie in einer stationären Einrichtung. Dort wurde die ehemals leitende Kraft als Pflegerin eingestellt, monatlich verdient sie nun weit weniger, 1500 Euro brutto monatlich.
Labuhns Branchenkollegen schildern ähnliche Erfahrungen. Der junge Pflegehelfer einer Einrichtung am Baumschulenweg sagt, er habe Arbeiten verrichtet, für die er nicht qualifiziert gewesen sei. Eine polnische Pflegekraft sagt, dass Patienten unter Druck gesetzt werden, um eine höhere Pflegestufe zu erhalten. Ein ehemaliger Pflegedienstleiter erzählt, dass die Vernachlässigung von Bedürftigen oft so weit gehe, dass „akute Lebensgefahr“ bestehe.
Die Hinweise, die derzeit aus der Branche kommen, lassen vor allem einen Schluss zu: Die Kontrollen versagen. Neben den Bezirken sind auch die Kassen verpflichtet zu prüfen. „Es gibt offenbar Klüngel zwischen MDK-Gutachtern und Pflegeunternehmen“, sagt von Dassel. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung MDK ist ein Kontrollorgan der Kassen, der Gutachter in Pflegeheime zur Qualitätsüberwachung und zur Einteilung von Pflegestufen entsendet. „Die Vorwürfe sind schwerwiegend, wir nehmen das sehr ernst“, sagt Hendrik Haselmann, MDK-Sprecher für Berlin und Brandenburg. Wer Vorwürfe erhebe, müsse aber auch mit Belegen kommen. „Wir brauchen Namen der Mitarbeiter, damit wir sie konfrontieren können“, sagte Haselmann.
Laut Büge und von Dassel geht der mutmaßliche Betrug durch Berliner Pflegedienste weit über gefälschte Abrechnung hinaus. Es gehe auch um die Erschleichung von Aufentshaltserlaubnissen, um Pflegekonstrukte, die Patienten schutzlos zurückließen. Die Sozialdezernenten fordern deshalb eine zentrale Anlaufstelle für Berlin, wo Betroffene angstfrei reden und beraten werden.
Denn der Markt der ambulanten Anbieter in Berlin wächst. Inzwischen mischen über 550 Unternehmen auf dem Markt mit, 200 Millionen Euro gibt das Land jährlich für Bedürftige aus. Zwischen den Sozialdezernenten und dem Senat ist nun ein Streit entbrannt, wie besserer Kontrolle künftig aussehen sollen. Neukölln und Mitte fordern neben der zentralen Anlaufstelle, dass Verträge mit unseriös arbeitenden Anbietern schneller kündbar sein müssen, Zulassungsanträge neuer Anbieter müssten strenger geprüft werden.
Sozialsenatorin Carola Bluhm (Linke) sieht die Bezirke in der Kontrollpflicht. Sie rügte, dass es für Ermittlungen ungünstig sei, an die Öffentlichkeit zu gehen, das behindere die Arbeit der Polizei. „Wir haben auch Anzeige erstattet, gehen aber nicht mit Firmennamen an die Öffentlichkeit, wenn es noch zu keiner Verurteilung gekommen ist“, sagte Gesundheitsstadträtin Sibyll Klotz (Grüne), aus dem Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Büge und von Dassel sehen dies als Hilfeschrei, weil Bezirksämter mit dem Problem überfordert seien. „Wir sind keine Detektei, nicht die Polizei und auch nicht die Justiz“, sagte von Dassel. Handeln müsste Senat, Justiz und Pflegekassen.