Street Games

Junge Spieler nutzen Berlin als Spielfeld

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Fabian Hartmann

Foto: Marion Hunger

"Mensch ärgere Dich nicht" an Straßenkreuzungen oder Roulette an Bahnhöfen: Junge Menschen nutzen die Stadt als Spielfeld und kaufen beim Handymonopoly die Friedrichstraße. Spielen wird dabei zum "Kulturphänomen".

Gleich geht es los. Der Blick der vier jungen Männer, alle um die 30 Jahre alt, schweift noch einmal über die Kreuzung. Dann gibt der Schiedsrichter mit einem durchdringenden Ton aus seiner Tröte das Spiel frei. Der Kampf um den Charlottenburger Asphalt beginnt. Je zwei Spieler pro Mannschaft versuchen, die Kreuzung Marchstraße/Einsteinufer nahe der Technischen Universität einzunehmen. Mit kleinen bunten Spielfiguren aus einem ganz normalen Brettspiel. Die werden in aufgemalte Kreise gesetzt. Immer wenn die Ampel auf Grün springt, dürfen die Teams auf die andere Seite gehen und ihre Figürchen aufstellen. Bei Rot müssen die Spieler auf ihren Feldern stehen bleiben. Wer am Ende die meisten Kreise eingenommen hat, gewinnt das „Mensch ärgere Dich nicht“-Duell in der Öffentlichkeit. Was für Passanten und Autofahrer merkwürdig aussieht, wird inzwischen immer beliebter, gerade in Berlin.

„Street Games“ nennt sich der Trend, der aus den USA und England kommt. Brett- und Videospiele werden in den öffentlichen Raum verlagert. So wie bei „Mensch ärgere Dich nicht“, das die vier Männer in Charlottenburg spielen. „Wir wollen einfach etwas Neues, Spannendes in der Stadt erleben“, sagt Sebastian Quack (29). Der Informatiker spielt nicht nur in seiner Freizeit – er entwickelt auch Street Games. Die leben davon, dass die Umgebung die Regeln beeinflusst. „Die Spieler müssen sich der Stadt und den Menschen aussetzen“, sagt Quack.

Die Spielergemeinde wächst

So auch beim Roulette in der U-Bahn. Die Spieler treffen sich an irgendeinem Bahnhof, irgendwo in Berlin. Sie wetten darauf, wie sich Passanten verhalten. Fahren sie in Richtung A oder B? Die jeweilige Richtung entspricht den Roulette-Feldern Rot oder Schwarz. Die Chance ist also 50 zu 50. Zusätzlich kann, analog zu den Zahlen beim Roulette, auf weitere Ereignisse gesetzt werden. Etwa darauf, ob die Menschen noch schnell zum Kiosk gehen, sich auf eine Bank setzen oder den Bahnhof nur durchqueren. Letzteres entspricht der Null im realen Roulette, ist extrem selten, und entsprechend hoch ist der Gewinn. Gespielt wird mit Geld – wie im echten Kasino.

Über Facebook und Twitter verabreden sich die Spieler. Bisher ist die Community in Deutschland noch recht überschaubar, doch sie wächst. Zum „You Are GO“-Festival, das im Sommer in Berlin stattfand, kamen 300 Leute. Ein kanadisches Entwicklerteam brachte das Spiel „Gentrification: The Game“ mit. In der Friedrichstraße traten Investoren und Anwohner gegeneinander an – natürlich nur fiktiv. Die Regeln dabei erinnern an „Monopoly“. Die Investoren kaufen ganze Häuser, sanieren sie, Edelboutiquen ziehen ein, die angestammte Bevölkerung wird aus ihrem Kiez verdrängt. Das Anwohnerteam versucht, das zu verhindern – indem es die Häuser kauft, ehe sie saniert werden. Das Kaufen funktioniert folgendermaßen: Wer ein Haus zuerst mit dem Handy fotografiert, dem gehört es. Dann kann die jeweilige Mannschaft, Investor oder Anwohner, entscheiden, was mit der Immobilie passiert. Man kann aus einem Haus zum Beispiel ein Einkaufszentrum machen oder ein Atelier. Der Umbau kostet jeweils Geld, ganz wie beim echten „Monopoly“. Wer am Ende die wertvollsten Häuser besitzt, gewinnt.

relatedlinksStreet Games zeichnen sich dadurch aus, dass sie einfach sind. „Die Regeln müssen sofort verständlich sein“, sagt Sebastian Quack. Vor allem junge Erwachsene zwischen 25 und 35 Jahren treffen sich zum Spielen. Wer dabei in die Öffentlichkeit geht, setzt sich auch ganz bewusst mit seiner Stadt und seinem Viertel auseinander. „Spielen ist ein Kulturphänomen“, sagt Lars Thoms, Leiter der Arbeitsstelle für Spieleforschung und Freizeitberatung an der FH Dortmund. Der Wissenschaftler beobachtet eine Rückkehr alter Spieletechniken. „Das Brettspiel ist nicht tot“, sagt er.

Bei Street-Game-Versionen von Brettspielklassikern wie „Mensch ärgere Dich nicht“ wird die Kommunikation der Teilnehmer besonders gefördert. Pro Team gibt es einen Setzer und einen Spion. Der Setzer verteilt die Figuren auf den Feldern. Der Spion beobachtet den Gegner und teilt seinem Mannschaftskollegen per Funkgerät mit, in welchen Kreis das andere Team gerade setzt. Nur wenn die Mitspieler sich ständig austauschen, können sie abschätzen, wie viele Punkte der Gegner schon gesammelt hat. Street Games üben eine besondere Faszination aus. „Die Großstadt bietet Abenteuerflair“, sagt Spieleforscher Thoms. Daher treffe man die Street-Gamer bisher vor allem in Metropolen an.

Berliner fahren nach Ungarn

2009 hat Sebastian Quack sein Hobby zum Beruf gemacht und Invisible Playground gegründet. Zusammen mit ehemaligen Studienkollegen entwickelt er ständig neue Spiele, die dann öffentlich gespielt werden. Im September fährt Quack mit fünf Freunden nach Budapest und Prag. Auch dort finden Street-Game-Turniere statt. Welche Spiele die Berliner anbieten, wissen sie aber noch nicht. „Wir schauen uns zuerst den Ort und die Bedingungen an“, sagt der 33-jährige Viktor Bedö. Viele Ideen entstünden erst, wenn man die Architektur sieht oder die soziale Zusammensetzung einer Stadt, so Bedö.

An der Straßenkreuzung in Charlottenburg ist das Spiel nach sechs Minuten beendet. Der Schiedsrichter drückt auf seine Tröte. Gewonnen hat das Team von Sebastian Quack. Die vier Spieler sammeln ihre Figuren ein. Bald schon treffen sie sich wieder. Zum nächsten Duell.

Deutsche Entwickler

Spiele: Auf dem Brett, an der Konsole oder in der Stadt: Menschen sind fasziniert von Spielen. „Spiele begegnen uns überall“, sagt Diplom-Sozialpädagoge Lars Thoms von der Arbeitsstelle für Spieleforschung und Freizeitberatung an der FH Dortmund. Ihre Faszination sei ungebrochen. Doch nicht alle Entwickler verdienen damit das große Geld: Die Macher von Invisible Playground um den Berliner Sebastian Quack machen mit Street Games bisher noch keinen Gewinn. Finanziert werden sie aus verschiedenen Kulturförderungen, die Universität der Künste stellt den Entwicklern einen Raum. Jährlich organisieren die Berliner drei bis vier Workshops, auf denen sie neue Spiele entwickeln, testen, und darüber diskutieren. Das Festival „You Are GO“, das im Sommer in Berlin stattfand, war laut Quack ein Erfolg. Wann das nächste Event in der Hauptstadt organisiert wird, steht noch nicht fest.

30 neue Konzepte für Spiele versucht Invisible Playground jedes Jahr zu entwickeln. In den USA und England ist die Szene schon länger etabliert, erst in den vergangenen fünf Jahren kam das Phänomen der Street Games in Deutschland auf – vor allem in Berlin. In anderen deutschen Großstädten gibt es noch keine aktive Szene, die regelmäßig die Stadt zum Spielfeld macht.

Profi-Entwickler: Street Games werden meist von professionellen Spieleentwicklern kreiert. Die kommen aus allen Bereichen. Sowohl PC-Entwickler als auch Erfinder von Brettspielen denken sich neue Games aus. So waren 20 Design-Gruppen beim „You Are GO“ im Sommer in Berlin. Die Macher von Invisible Playground hoffen, dass die Szene weiter wächst – und sich irgendwann mit Street Games auch Geld verdienen lässt.