Vor allem in Neukölln und Treptow wehren sich Lehrer gegen das jahrgangsübergreifende Lernen. Sie fühlen sich mit gemischten Klassen überfordert. Die Schulen wollen zur alten Regelung zurück.

Insgesamt 70 von 364 Berliner Grundschulen wollen das jahrgangsübergreifende Lernen (Jül) wieder abschaffen und Klassen mit gleichaltrigen Schülern unterrichten. Damit planen deutlich mehr Schulen, die zentrale Reform im Grundschulbereich zurückzudrehen, als es die Bildungsverwaltung ursprünglich erwartet hatte. Der Senat war davon ausgegangen, dass etwa zehn Prozent der Schulen die jahrgangsgemischten Klassen in den ersten beiden Jahrgängen wieder abschaffen wollen. Jetzt sind es rund 20 Prozent.

Das jahrgangsübergreifende Lernen beinhaltet, dass Schüler des ersten und zweiten Klassen gemeinsam lernen

Die meisten Anträge kommen dabei aus Neukölln. Hier haben 20 Schulen ein Alternativkonzept beantragt. Doch der Wunsch nach altersgleichen Klassen kommt nicht nur aus Brennpunktschulen. An zweiter Stelle steht der Bezirk Treptow-Köpenick mit elf Anträgen. In Pankow wollen sechs Schulen zurück zur alten Einteilung der Klassenstufen und in Steglitz-Zehlendorf fünf Schulen. Gar keine Anträge sind nach Auskunft der Schulaufsicht aus den Bezirken Mitte und Marzahn-Hellersdorf eingegangen.

Die Schulen mussten ihre Alternativkonzepte bis zum 1. Juli einreichen. Wie viele Abweichungen die Schulaufsicht bewilligen wird, ist noch offen. Korrekturen an den Konzepten sind noch möglich – doch mit Beginn der Herbstferien muss die Schulbehörde nun entscheiden, ob sie den Anträgen zustimmt. Bis zum 24. Oktober soll Klarheit herrschen, welche Schulen ab dem Schuljahr 2012/2013 in den herkömmlichen Jahrgangsklassen unterrichten. Dann startet der Anmeldezeitraum für die Schulanfänger.

Erst im Mai hatte Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) im Rahmen seines Qualitätspakets den Grundschulen die Möglichkeit alternativer Konzepte für die Schulanfangsphase eingeräumt. Bis dahin war die Umsetzung der Reform Pflicht. Doch viele Schulen hatten immer wieder bemängelt, dass die Jahrgangsmischung kontraproduktiv sei. Die hohe Zahl der sogenannten Verweiler hatte die Kritik untermauert. So musste im Jahr 2009/2010 jeder fünfte Schüler die zweite Klasse wiederholen – eine Verdoppelung seit der verbindlichen Einführung der Reform 2007/2008.

Doch die Hürden für Sonderwege sind hoch. Zöllner hatte betont, dass die Jahrgangsmischung der Regelfall bleiben solle. Die Schulen, die davon abweichen wollten, mussten deshalb ein Konzept entwickeln, wie sie die Schüler dennoch individuell fördern wollen und wie sie sicherstellen, dass Kinder die Schulanfangsphase je nach Begabung schneller oder langsamer durchlaufen können. Dem Konzept musste die Schulkonferenz, in der Lehrer, Eltern und Schulleitung vertreten sind, mindestens mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit zustimmen. Für diesen ganzen Prozess von der Entwicklung bis zur Entscheidung hatten die Schulen nur fünf Wochen Zeit.

„Angesichts dieser kurzen Frist ist es bemerkenswert, dass jede fünfte Schule einen Antrag zum Ausstieg gestellt hat“, sagt Sascha Steuer, bildungspolitischer Sprecher der CDU. Er gehe davon aus, dass im kommenden Jahr weitere Anträge hinzukommen. Die Zahl der Anträge zeige auch, dass die Freiwilligkeit ein absolut notwendiger Schritt gewesen sei. „Jetzt ist zu hoffen, dass die Zahl der Wiederholer in den zweiten Klassen wieder sinkt“, so Steuer. Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der Grünen, macht den Senat mit dafür verantwortlich, dass die Reform an einem Teil der Grundschulen gescheitert ist. „Wenn sich so viele Schulen von Jül verabschieden, hat das sicher auch mit der mangelnden Personalausstattung zu tun“, so Mutlu. Zudem hätten sich viele Schulen bei der Umsetzung der Reform alleingelassen gefühlt. Es reiche eben nicht, eine gut gemeinte Veränderung anzuordnen, man müsse auch dafür sorgen, dass die Reform erfolgreich sein könne.