Zehntausende Fahrgäste waren vom Kabelbrand der S-Bahn am Montagmorgen betroffen. Auch wenn die Bahn für den Vorfall selbst nichts kann, ärgern sich die Berliner über das beispiellose Informationschaos.

Nichts geht mehr am Ostkreuz. Zwei Züge, beide voll mit Menschen, stehen Montagmorgen abfahrbereit am Bahnsteig; doch dass es bald weitergeht – damit rechnet inzwischen keiner mehr. Viele haben bereits Handys gezückt. Ein Stimmengewirr brummt über den Perron: Entschuldigungen bei der Arbeit, dass man zu spät komme, Verabredungen, die verschoben werden müssen. Manche rufen gar zu Hause an und bitten um Hilfe bei der Suche nach einer schnelleren Verbindung. Verärgert wartet eine junge Mutter darauf, dass sich die Türen der S-Bahn endlich schließen. Ihre Tochter geht auf Klassenfahrt ins westfälische Unna. Abfahrt ist am Bahnhof Gesundbrunnen. Doch die Station im Norden Berlins ist kaum zu erreichen, weil weder auf der Stadtbahn noch auf der Ringbahn noch regelmäßiger Verkehr herrscht. Hektisch telefoniert die gereizte Mutter mit der Klassenlehrerin, in der Hoffnung, dass sie vielleicht noch auf ihre kleine Tochter warten. „Die Bahnen hier fahren einfach nicht. Seit 20 Minuten warte ich jetzt schon. Und wenn es irgendwann losgehen sollte, fährt die S-Bahn gerade einmal bis zur Greifswalder Straße“, sagt die 37-Jährige.

So wie ihr geht es Zehntausenden Berlinern und Brandenburgern an diesem Montag. Nur wenige Fußminuten von jenem Bahnsteig am Ostkreuz entfernt haben unbekannte Täter in der Nacht zuvor Feuer an eine Kabelbrücke der Deutschen Bahn über dem Markgrafendamm gelegt. Seit Jahren laufen wichtige Kabel dort oberirdisch, damit sie auf der benachbarten Ostkreuz-Baustelle nicht die Arbeiten behindert. Fahrstrom für die S-Bahn, Signalkabel für die Stellwerke, aber auch Datenkabel für Telefon- und Internetverbindungen. Das Feuer war nach gut 90 Minuten gelöscht. Doch der Schaden ist enorm. Die Deutsche Bahn meldet Ausfälle und Verspätungen im gesamten Zugverkehr rund um Berlin. Betroffen sind die S-Bahn, wichtige Regionallinien und auch der Fernverkehr, wo viele Züge umgeleitet werden müssen. Auch Lautsprecheranlagen und Anzeigetafeln fallen zeitweilig aus. Bei der S-Bahn fahren nur die Nord-Süd-Linien S1, S2 und S25 planmäßig, weil sie nicht über das Ostkreuz rollen. In Ost-West-Richtung und auf dem Ring herrscht Chaos. Züge fallen aus, fahren mit großer Verspätung oder enden weit vor der eigentlichen Endstation. Die Strecken nach Strausberg Nord, Erkner, Schönefeld und Königs-Wusterhausen können gar nicht bedient werden.

Noch bis in die Nacht hinein mussten die Fahrgäste mit erheblichen Einschränkungen rechnen. Bis alles wieder planmäßig fährt könnten nach Auskunft der Bahn sogar mehrere Tage vergehen. Für Dienstag rechnet ein Sprecher mit Ausfällen im Osten Berlins, vor allem auf der Strecke zwischen Erkner und Karlshorst.

Am Ostkreuz hallen am Morgen nur vereinzelte Durchsagen durch den Bahnhof. Reisende wenden sich an zwei Angestellte der Bahn, die versuchen, so gut es geht deren Fragen zu beantworten. Doch zur Aufklärung der Geschehnisse trägt dies kaum bei. Als die Internetseiten der Deutschen Bahn am Mittag wieder funktionieren, ist dort von „Einschränkungen durch Vandalismus“ die Rede. Zur gleichen Zeit schließt Berlins Polizeipräsident Dieter Glietsch im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses nicht aus, dass die Brandstiftung einen politischen Hintergrund haben könnte. Eine gute Stunde später bekennt sich eine linksgerichtete Gruppe im Internet zu dem Anschlag.

Den Reisenden, die sich zum Teil seit Stunden durch das Chaos quälen, ist der Hintergrund egal. Am Bahnhof Friedrichstraße machen die Kaffeeverkäufer ein gutes Geschäft. Pappbecher türmen sich auf Ticketautomaten und Bänken. Wer weiter will, muss Geduld haben. Die raren S-Bahnzüge sind restlos überfüllt. „Die Bahn kann ja nichts dafür. Aber es nervt mich, wenn dann die Züge so voll sind“, sagt Sachbearbeiterin Barbara Förster. „Ich bin in die erste Bahn gar nicht mehr hineingekommen und warte jetzt auf den nächsten Zug.“

Der benachbarte Regional-Bahnsteig ist fast menschenleer. „Zug fällt aus“ steht auf einem Laufband auf den Anzeigetafeln. Etwas verloren blickt eine Reisegruppe, die immerhin noch in Berlin angekommen ist, sich um. Kein Bahn-Mitarbeiter ist da, der ihnen weiterhelfen könnte. Schließlich kommt eine junge Frau in DB-Uniform. Eigentlich ist sie nur da, um die Mülleimer zu leeren, jetzt wird sie zur Auskunftszentrale. Zum Glück kennt sie sich aus, empfiehlt das, was an diesem Chaos-Tag noch zuverlässig – wenn auch teilweise überfüllt – fährt: die U-Bahn.

Wer nicht soviel Glück hat, auf eine kompetente Auskunft zu treffen, ist entsprechend genervt. Lieselotte Kunze (64) ist Rentnerin und war auf dem Weg nach Fürstenwalde: „Wir mussten schon in Leipzig außerplanmäßig umsteigen, und es gab auf der Strecke nach Berlin gar keine Auskünfte in den Zügen“, sagt sie. „Jetzt stehe ich hier Gott sei Dank am richtigen Bahnsteig, nachdem ich zuerst dorthin und dann dahin geschickt wurde. Es ist alles total unorganisiert, ich bin mit den Nerven am Ende.“

Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg (VBB) spricht von einem „unerträglichen Informationschaos“ im S- und Regionalbahnverkehr. Sofern es bei der Deutschen Bahn AG und ihrem Tochterunternehmen S-Bahn standardisierte Konzepte zur Bewältigung von Großstörungen gebe, seien jene offenbar nicht ausreichend oder nicht richtig angewendet worden. „Die Leidtragenden sind einmal mehr die Fahrgäste, die keine oder nur schlechte Orientierung im Chaos erhalten“, kritisiert VBB-Chef Hans-Werner Franz. „Beim Ausfall der Technik muss umgehend ausreichend und geschultes Personal sinnvoll auf Bahnsteigen, Bahnhöfen und wichtigen Umsteigepunkten verteilt werden.“