Interview

Künast will Ende der "ökologischen Geisterfahrt"

| Lesedauer: 10 Minuten
Jens Anker

Die Grünen befinden sich auf dem Weg zur Abgeordnetenhauswahl im Umfragehoch. Doch Spitzenkandidatin Renate Künast kann persönlich gegen Amtsinhaber Klaus Wowereit nicht punkten. Im Interview spricht sie über den Wahlkampf und wichtige Zukunftsfragen.

Morgenpost Online: Frau Künast, die Grünen erreichen nach aktuellen Umfragen 26 Prozent, liegen aber hinter der SPD. Freuen Sie sich über ihre guten Werte oder ärgert Sie, weiter hinter der SPD zu liegen?

Renate Künast: Zum ersten Mal gibt es in Berlin ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Seit Monaten liegen SPD und Grüne nahezu gleichauf. Endlich gibt es in Berlin einen wirklich spannenden Wahlkampf, in dem es um etwas geht. Für die politische Kultur in Berlin kann das nur gut sein. Und egal, ob wir jetzt mal vor der SPD liegen oder mal dahinter: Die Wahl ist am 18. September um 18 Uhr entschieden.

Morgenpost Online: Wie erklären Sie sich die anhaltend hohen Umfragewerte Ihrer Partei?

Renate Künast: Das hat sehr viel mit Glaubwürdigkeit zu tun. Die Leute sehen, dass wir unserem grünen Faden treu sind. Wir zeigen, wie man mit guter Bildungspolitik Zukunftschancen eröffnet, wie mit grüner Wirtschaftspolitik Arbeitsplätze geschaffen werden und – nicht erst seit Fukushima – wie man zu einer Energieversorgung ohne Risiko kommen kann. Das honorieren die Leute nicht nur in Umfragen, sondern wie wir in Baden-Württemberg und anderswo sehen, auch bei der Wahl mit einem klaren Regierungsauftrag.

Morgenpost Online: Aber dennoch schneiden Sie im Vergleich zu Klaus Wowereit schlechter ab?

Renate Künast: Ich trete als Renate Künast an und das heißt, ich werde für eine bessere Politik in meiner Stadt kämpfen und arbeiten. Das heißt vor allem gute Bildung für alle und ordentlich bezahlte Arbeitsplätze.

Morgenpost Online: Fürchten Sie, dass die Zustimmung wieder sinkt, wenn das Atom-Thema wieder weniger im öffentlichen Fokus steht?

Renate Künast: Nein, Glaubwürdigkeit hängt ja nicht an einem einzigen Thema. Ich glaube, dass die Leute es grundsätzlich richtig finden, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Wie sieht es für uns alle und für die Einzelne im nächsten Jahr und wie in zehn Jahren aus? Darauf erwarten die Leute Antworten – und zwar von uns. Die aktuelle Atomdebatte zeigt doch, dass wir nicht zufällig Antworten haben. Wir haben schon lange auch für Berlin an sicheren und sauberen Energiekonzepten gearbeitet. Dafür bekommen wir Zuspruch, während die anderen Parteien jetzt hektisch ihre Position suchen müssen.

Morgenpost Online: In Berlin muss kein Atomkraftwerk abgeschaltet werden. Um was geht es aber für Berlin in den kommenden Jahren?

Renate Künast: Ich bekomme viele Einladungen an Schulen, in Betriebe, in Krankenhäuser, da geht es höchst selten um Atomenergie, da geht es um ganz konkrete Probleme. Um die Zukunftsfragen Berlins, aber auch Alltagsschwierigkeiten der Menschen. Leute wollen von mir wissen, wie wir den Haushalt in den Griff bekommen, wie wir die Schulen besser machen, wie wir Arbeitsplätze nach Berlin holen können, wie es mit der Kreativwirtschaft weitergeht, wie sich die Gesundheitswirtschaft positioniert und wie wir die Flächen nutzen, die Berlin zur Verfügung hat. Daran erkennen sie, dass die Grünen nicht auf die Atomenergie reduzierbar sind. Von uns werden Antworten auf alle Herausforderungen erwartet und wir geben sie.

Morgenpost Online: Ist es nicht ein Mythos der Politik, Arbeitsplätze versprechen zu können?

Renate Künast: Es ist richtig, wir schaffen Arbeitsplätze nicht selbst. Die Politik kann aber Bremsen lösen, damit Arbeitsplätze entstehen. Nehmen wir den Bereich der Gesundheitswirtschaft. Wir dürfen die Debatte um die Zukunft von Charité und Vivantes nicht weiter vertagen, sondern müssen jetzt dafür sorgen, dass sich die beiden Gesundheitsunternehmen wieder auf ihre Arbeit konzentrieren und nicht ständig nach Kooperationen suchen müssen.

Morgenpost Online: Wie wollen sie das erreichen?

Renate Künast: Durch Führung aus einer Hand, damit die Einrichtungen effizienter mit ihrem Geld wirtschaften können. Das geht weit über eine Kooperation bei den Laboren und der Kantine hinaus. Unternehmen der Pharmabranche haben mir gesagt, bevor sie über einen Ausbau ihrer Tätigkeit in Berlin entscheiden, wollen sie wissen, wie es mit der Charité weitergeht. Sie ist der Leuchtturm der Berliner Gesundheitswirtschaft. Die Charité muss sich auf Forschung und Lehre konzentrieren können.

Morgenpost Online: Gesundheitswirtschaft allein kann die Probleme nicht lösen. Was planen Sie noch?

Renate Künast: Welche Flächen kann man in Berlin systematisch nutzen? Viele Unternehmen der Elektro-Mobilität sagen mir, sie suchen Standorte, um Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Da geht es nicht um eine Fabrik, sondern um etliche Akteure von Batterietechnologie bis zur Forschung. Da hätte Berlin viel zu bieten, man könnte den Flughafen Tegel zur Solar City TXL machen und gezielt Firmen anwerben.

Morgenpost Online: Das ist ein hehres Ziel. Ist das realistisch?

Renate Künast: Wenn Städte in Zukunft Teil der Lösung sein sollen und bei laufendem Betrieb umgestaltet werden, gehört es dazu, eine tragfähige Idee für die beste Infrastruktur zu entwickeln. Wer hat als erstes die universitäre, die Handwerks- und Unternehmerkultur, das umzusetzen? Da könnte man eine schlaflose Nacht verbringen, weil der Senat das versemmelt hat. Berlin kann viel mehr, aber sein Senat muss mit der ökologischen Geisterfahrt aufhören.

Morgenpost Online: Was meinen Sie damit?

Renate Künast: Ich halte es für eine umweltpolitische Geisterfahrt, im Jahr 2011 vom Regierenden Bürgermeister erzählt zu bekommen, dass Klimaschutz und Gebäudesanierung eine Zumutung seien. Dann lese ich, der Atomausstieg dürfe nicht dazu führen, dass die kleinen Leute den Besserverdienenden die Solaranlage auf dem Dach bezahlen – das ist klimapolitisch aberwitzig und ein Bürgermeister sollte wissen: Die Solaranlage auf dem Dach zahlt nie der Mieter. Der Mieter zahlt die Sanierung seiner Wohnung. Und mal mit allem Ernst: Wer heute noch einen Gegensatz aus Ökologie und sozialer Gerechtigkeit inszeniert, der ist aus der Zeit gefallen. Mit dieser Linie würde Berlin sich aus sämtlichen Debatten verabschieden und Zukunftsmärkte mit der damit verbundenen Beschäftigung anderen überlassen.

Morgenpost Online: Die SPD wirft den Grünen vor, im Grunde eine reaktionäre Partei zu sein?

Renate Künast: Das musste ich auch zweimal lesen, ehe ich glauben konnte, dass jemand im Ernst so redet. Wir hören den Menschen zu und sprechen ihre Sorgen an. Um ein Beispiel zu geben: wenn die Lärmkommission Flugrouten vorschlägt, die einen Kompromiss zwischen den berechtigten Interessen der Anwohner und dem wirtschaftlichen Erfolg des Flughafen BBI darstellen, sind wir dabei und nehmen das auf. Das ist eine andere politische Kultur. Das nehmen immer mehr Menschen wahr.

Morgenpost Online: Es sind ja nicht nur Mieter, die sich fürchten, sondern auch die Eigenheimbesitzer?

Renate Künast: Wir wollen die energetische Sanierung nicht gegen, sondern mit den Beteiligten voranbringen. Die IHK hat zusammen mit dem BUND und dem Mieterverein ein Stufenkonzept ausgearbeitet, das zeigt, wie es gehen kann. Da sind wir Grünen prinzipiell dabei. Man muss im Einzelfall durchrechnen, was geht und was nicht. Fakt ist aber, dass die Energiekosten jährlich steigen. Es wäre unsozial, die Menschen auf diesen steigenden Energiekosten sitzen zu lassen. Da verstehe ich die Sozialdemokraten nicht.

Morgenpost Online: Sie kritisieren den Senat heftig, sagen aber, die größte Schnittmenge besteht mit der SPD. Ein Widerspruch?

Renate Künast: Ich begegne Sozialdemokraten, die genauso an diesem Senat leiden. Es ist das konkrete Regierungshandeln, was frustriert. Gut gemeint ist eben nicht gleich gut gemacht. Inhaltlich gibt es viele Schnittmengen. Aber es ist auch klar, dass es zu der Truppe im Roten Rathaus eine klare Alternative gibt, nämlich uns Grüne. Berlin entscheidet am 18. September darüber, die Bremsen zu lösen und loszulegen.

Morgenpost Online: Aber gerade Klaus Wowereit eilt der Ruf voraus, ein guter Wahlkämpfer zu sein…

Renate Künast: Es geht nicht um wenige Wochen Wahlkampf, es geht um gute Politik in den nächsten fünf Jahren. Ich messe den Senat an seinen Taten und da sehe ich eine verbrauchte rot-rote Aufstellung, die nichts mehr anzubieten hat. Alles, was kommt, ist, dass die Versäumnisse der letzten zehn Jahre uns jetzt als Versprechen für die Zukunft angeboten werden. Die Berlinerinnen und Berliner entscheiden, ob das Reden über die Mitbewerber ein guter Wahlkampf ist, oder ob es um die wirklichen Probleme und zielstrebige Lösung gehen soll. Ich will etwas für die Menschen erreichen, darüber rede ich im Wahlkampf.

Morgenpost Online: Sind die Grünen in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Renate Künast: Ja, sicher. Wir nehmen die Interessen der ganzen Stadt wahr. Und wir nehmen die Veränderungen in der Stadt wahr. Berlin ist wunderbar, aber so, wie es heute ist, kann und will es morgen nicht bleiben.

Morgenpost Online: Und Sie müssen einen Schatz finden, mit dem Sie das alles auch bezahlen können.

Renate Künast: Zunächst braucht diese Stadt einen Kassensturz und klare Prioritäten. Ich setze auf Ehrlichkeit und zwar schon vor der Wahl. Berlin muss sparen, Wahlgeschenke sind nicht drin. Wir werden im Bildungsbereich investieren, aber jeden Euro mehrmals umdrehen. Wir müssen uns entscheiden, was eine entscheidende Weiche für die Zukunft ist. Wir brauchen einen Kongressstandort, wir brauchen die Charité als Leuchtturm. Wir brauchen mehr Einnahmen aus der Gewerbesteuer und wir setzen uns für eine City-Tax ein. Es ist viel zu rechnen, aber es geht.